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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Gelegenheit nicht verstreichen lassen - Haines ist so nahe.«
    »He, schon gut«, sagte Natalie. Sie war so aufgeregt, daß sie nicht stillsitzen konnte, sondern ging auf die Knie, in die Hocke und wieder auf die Knie. Sie leckte sich die Lippen. »Saul, das macht Spaß .«
    Saul sah sie an.
    »Ich meine, ich weiß, es ist beängstigend und alles, aber es ist auch aufregend. Wir müssen diesen Burschen schnappen und von hier verschwinden und ... autsch .«
    Saul hatte sie an der Schulter gepackt und ganz fest gedrückt. Er lehnte das Gewehr an den Felsen und legte ihr die rechte Hand auf die andere Schulter. »Natalie«, sagte er, »in diesem Augenblick ist Ihr Körper mit Adrenalin vollgepumpt. Es scheint sehr aufregend zu sein. Aber dies ist keine Fernsehsendung. Die Schauspieler stehen nicht auf und gehen einen Kaffee trinken, wenn die Schießerei vorbei ist. In den nächsten paar Minuten wird jemand verletzt werden, und das wird nicht aufregender sein als die Nachwirkungen eines Automobilunfalls. Konzentrieren Sie sich. Sehen Sie zu, daß der Unfall jemand anderem passiert.«
    Natalie nickte.
    Der Helikopter kreiste zum letztenmal, verschwand kurz hinter der Kuppe im Süden, kam zurück und landete in einer Wolke aus Staub und Piniennadeln. Natalie legte sich auf den Bauch und drückte die Schulter an den Felsbrocken, während Saul ebenfalls bäuchlings lag und das Gewehr an die Schulter hielt.
    Saul atmete den Duft von sonnenverbrannter Erde und Piniennadeln ein und dachte an eine andere Zeit und einen anderen Ort. Nach seiner Flucht aus Sobibor im Oktober 1944 hatte er sich im Wald der Eulen einer jüdischen Untergrundorganisation namens Chil angeschlossen. Im Dezember, bevor er als Helfer des Arztes der Gruppe zu arbeiten anfing, hatte Saul eine Flinte bekommen und war zum Wachdienst abgestellt worden.
    Es war eine kalte, klare Nacht gewesen - das Licht des Vollmonds färbte den Schnee blau -, als der deutsche Soldat auf die Lichtung gestolpert kam, wo Saul im Hinterhalt lag. Der Soldat war kaum mehr als ein Junge und hatte weder Helm noch Gewehr bei sich. Seine Hände und Ohren waren mit Lumpen umwickelt, die Wangen weiß von Frostbeulen. Saul sah an den Regimentsabzeichen sofort, daß der Junge ein Deserteur war. In der Woche zuvor hatte die Rote Armee in der Gegend eine Großoffensive gestartet, und es sollte zwar noch ganze zehn Wochen dauern, bis die Wehrmacht endgültig geschlagen war, aber dieser Junge hatte sich wie viele andere zu einem kopflosen Rückzug entschlossen.
    Jechiel Grünspan, der Anführer von Chil, hatte explizite Befehle gegeben, wie mit einzelnen deutschen Deserteuren zu verfahren war. Sie sollten erschossen, ihre Leichen in den Fluß geworfen oder einfach zum Verfaulen liegengelassen werden. Es sollten keine Verhöre vorgenommen werden. Die einzige Ausnahme dieser Regel bestand darin, wenn der Schuß die Partisanengruppe an die gelegentlichen deutschen Patrouillen verraten könnte. Dann sollten die Wachtposten das Messer benützen oder den Deserteur ziehen lassen.
    Saul hatte eine Warnung gerufen. Er hätte schießen können. Seine Gruppe lag Hunderte Meter entfernt versteckt in einer Höhle. Keine deutschen Aktivitäten in der Gegend. Aber er hatte den Deutschen angesprochen, statt auf der Stelle zu feuern.
    Der Junge war im Schnee auf die Knie gesunken und fing an zu weinen, während er Saul auf deutsch anflehte. Saul war hinter den Jungen getreten, so daß die Mündung der uralten Mauser keinen Meter von dem blonden Hinterkopf mehr entfernt war. Da mußte Saul an die >Grube< denken - an die weißen Leichen, die nach vorne fielen, und an den Kalk, der an der Wange des Wehrmachtsoffiziers klebte, während dieser eine Zigarettenpause machte und dabei die Beine über dem Grauen baumeln ließ.
    Der Junge weinte. Eis glitzerte auf seinen langen Wimpern. Saul hatte die Mauser gehoben. Und dann war er zurückgewichen, hatte auf polnisch >geh< gesagt und den jungen Deutschen betrachtet, der fassungslos über die Schulter sah und dann über die Lichtung kroch und stolperte.
    Am nächsten Tag, als die Gruppe nach Süden zog, hatten sie den erfrorenen Leichnam des Jungen mit dem Gesicht nach unten in einer eisfreien Stelle eines Bachs gefunden. An diesem Tag war Saul zu Grünspan gegangen und hatte darum gebeten, Assistent von Dr. Jaczyk zu werden. Der Anführer von Chil hatte Saul lange Zeit angesehen, bis er etwas gesagt hatte. Die Gruppe hatte keine Verwendung für Juden, die keine

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