Kraft des Bösen
sagte ich. »Werde ich Willi sehen?«
»Vielleicht«, sagte Nina, »aber wenn nicht, müssen wir in Übereinstimmung mit ihm arbeiten bis zum vereinbarten Zeitpunkt.«
»Dem vereinbarten Zeitpunkt?«
»Ein Monat von heute. Auf der Insel.« Das Mädchen strich sich wieder mit der Hand über die Stirn, und an ihrem Zittern bemerkte ich das Ausmaß ihrer Erschöpfung. Es mußte Ninas gesamte Energie gekostet haben, das Mädchen auch nur zum Laufen und Sprechen zu bringen. Ich sah plötzlich das Bild von Nina vor mir, die in ihrem Grab verweste, und Justin erschauerte.
»Sag es mir«, sagte ich.
»Später«, sagte Nina. »Wir werden uns wiedersehen und darüber sprechen, was getan werden muß ... wie du uns helfen kannst. Jetzt muß ich gehen.«
»Nun gut«, sagte ich, und meine Kinderstimme konnte die kindliche Enttäuschung nicht verbergen, die ich empfand.
Nina - die Negerin - stand auf, ging langsam zu Justins Stuhl und küßte ihn - küßte mich - sanft auf die Wange. Wie oft hatte mir Nina schon diesen Judaskuß, unmittelbar bevor sie mich verraten hatte, gegeben? Ich mußte an unser letztes Zusammentreffen denken.
»Leb wohl, Melanie«, flüsterte sie.
»Leb wohl, fürs erste, Nina, Teuerste«, antwortete ich.
Sie ging zur Tür und sah dabei von einer Seite auf die andere, als könnten Culley oder Miß Sewell sie jeden Moment aufhalten. Wir saßen alle lächelnd im Kerzenschein und hielten die Teetassen auf Knien oder Schoß.
»Nina«, sagte ich, als sie unter der Tür stand.
Sie drehte sich langsam um, und ich mußte an Anne Bishops Katze denken, als Vincent sie schließlich im Schlafzimmer im ersten Stock in die Enge getrieben hatte. »Ja, Teuerste?«
»Warum hast du heute nacht dieses Niggermädchen geschickt?«
Das Mädchen lächelte rätselhaft. »Aber Melanie, hast du nie farbige Dienstboten zu Besorgungen geschickt?«
Ich nickte. Das Mädchen ging.
Draußen zog sich der farbige Junge mit dem Schlachtermesser tiefer in die Büsche zurück und sah ihr nach. Culley war mitgegangen, um ihr das Tor aufzuschließen.
Sie wandte sich nach links und ging langsam die dunkle Straße entlang.
Ich ließ den Negerjungen in den Schatten hinter ihr herschleichen. Eine Minute später machte Culley das Tor auf und folgte.
55. Kapitel
Charleston: Dienstag, 5. Mai 1981
Natalie zwang sich, den ersten Block zu gehen. Als sie um die Ecke bog und das Fuller-Haus nicht mehr zu sehen war, wußte sie, daß sie vor der Wahl stand, die Knie weich werden zu lassen und auf dem Gehweg zusammenzubrechen oder zu laufen.
Natalie lief. Sie lief den ersten Block in Windeseile entlang, verweilte an der Ecke, drehte sich um und erblickte eine dunkle Gestalt, die einen Hof durchquerte, als die Scheinwerferkegel eines wendenden Autos über sie hinweghuschten. Der junge Mann kam ihr vage bekannt vor, aber aus der Entfernung konnte sie die Einzelheiten seines Gesichts oder seiner Züge nicht erkennen. Aber das Messer in seiner Hand sah sie. Eine andere, größere Gestalt ließ sich an der Ecke sehen. Natalie rannte einen Block nach Süden und wandte sich dann wieder nach Osten, wobei sie jetzt keuchte und Feuer in ihren Rippen brannte, je erschöpfter sie wurde, aber sie schenkte den Schmerzen keine Beachtung.
An dem Block, wo sie den Kombi abgestellt hatte, waren die Straßenlampen heller, aber die Geschäfte und Restaurants geschlossen, die Gehwege verlassen. Natalie kam schlitternd zum Stillstand, zog die Tür der Fahrerseite auf und warf sich auf den Sitz. Einen Augenblick wurde sie von einer tiefergehenden, gedankenlosen Panik ergriffen, als sie feststellte, daß die Schlüssel nicht im Zündschloß steckten und sie keine Tasche oder Hosentaschen hatte. Ihr fiel aber fast auf der Stelle wieder ein, daß sie sie unter den Sitz gelegt hatte, wo Saul sie finden konnte, wenn er das Auto holen kam.
Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, wurde die Tür der Beifahrerseite aufgerissen, und ein Mann stieg in das Auto ein.
Natalie verkniff sich krampfhaft einen Schrei, als sie hochschnellte und unwillkürlich die Fäuste hob.
»Ich bin es«, sagte Saul. Er rückte seine Brille zurecht. »Geht es Ihnen auch gut?«
»Herrje«, hauchte Natalie. Sie tastete herum, fand die Schlüssel und ließ das Auto mit aufheulendem Motor an…
Ein Schatten löste sich aus dem Gesträuch und lief fünfzehn Meter entfernt auf die Straße. »Festhalten!« rief Natalie. Sie rammte den Gang hinein, fuhr auf die Straße und hatte schon
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