Kraft des Bösen
büschelweise ausgefallen, aber das verbliebene war gründlich gekämmt worden und lag auf dem gewaltigen Kissen wie eine Korona ekelerregender blauer Flammen. Das Gesicht war uralt, zerfurcht, von Schwären überzogen und in grausame Falten gelegt; die linke Seite hing herunter wie eine Totenmaske aus Wachs, die zu nahe an eine Flamme gehalten worden war. Der zahnlose Mund öffnete und schloß sich wie das Maul einer jahrhundertealten, schnappenden Schildkröte. Das rechte Auge des Dings bewegte sich rast- und ziellos, sah eben noch zur Decke und wurde einen Moment später so sehr verdreht, daß nur noch das Weiße zu sehen war, ein in einen Schädel eingebettetes Ei, von Schichten gebräunten Pergaments überzogen.
Hinter den grauen Spitzen wandte sich das Gesicht in Natalies Richtung, der schnappende Schildkrötenmund gab feuchte Schmatzlaute von sich.
Die Clown-Schwester hinter Natalie flüsterte: »Ich werde jünger, nicht wahr, Nina?«
»Ja«, sagte Natalie.
»Bald werde ich wieder so jung sein wie vor dem Krieg, als wir alle in den Simpl gegangen sind. Kannst du dich daran erinnern, Nina?«
»Simpl«, sagte Natalie. »Ja. Wien.«
Der Arzt schob sie alle hinaus und machte die Tür zu. Die fünf standen auf dem Absatz. Plötzlich streckte Culley den Arm aus und nahm Natalies Hand zärtlich zwischen seine riesigen Pranken. »Nina, Darling«, sagte er in einem mädchenhaften, beinahe koketten Falsett. »Was immer du von mir verlangst, soll getan werden. Sag mir, was ich als nächstes tun soll.«
Natalie schüttelte sich und betrachtete ihre Hand in der von Culley. Sie drückte ihm die Handfläche und tätschelte ihm mit der freien Hand den Arm. »Morgen, Melanie, werde ich dich wieder zu einer Spazierfahrt abholen. Justin wird morgen früh wieder wach und bereit sein, wenn du ihn benützen willst.«
»Wohin fahren wir, Nina, Teuerste?«
»Wir beginnen mit unseren Vorbereitungen«, sagte Natalie. Sie drückte dem Giganten ein letztes Mal die schwielige Hand und zwang sich, die unendlich lange Treppe hinunterzugehen und nicht zu laufen. Marvin stand neben der Tür, hielt ein langes Messer in der Hand, und seine stumpfen Augen drückten kein Wiedererkennen aus. Als Natalie das Foyer erreicht hatte, hielt er ihr die Tür auf. Sie blieb stehen, nahm die letzte Willenskraft zusammen, sah zu dem wahnsinnigen Tableau im Dunkeln am Ende der Treppe hinauf, lächelte und sagte: >Adieu, bis morgen, Melanie. Enttäusch mich nicht noch einmal.«
»Nein«, sagten die Fünf unisono. »Gute Nacht, Nina.«
Natalie drehte sich um und ging, ließ sich von Marvin das Tor aufschließen und drehte sich nicht einmal um, als sie an Saul und dem parkenden Kombi vorbeiging, holte immer tiefer und tiefer Luft beim Gehen und verhinderte allein durch Willensanstrengung, daß aus dem Luftholen ein Schluchzen wurde.
60. Kapitel
Dolmann Island: Samstag, 13. Juni 1981
Am Wochenende hatte Tony Harod es durch und durch satt, sich unter die Reichen und Mächtigen zu mischen. Er war zu der wohlüberlegten Meinung gelangt, daß die Reichen und Mächtigen eine ausgeprägte Neigung zum Arschlochismus hatten.
Er und Maria Chen waren früh am vergangenen Sonntagabend mit einem Privatflugzeug in Meridian, Georgia, eingetroffen, dem verschwitztesten siebten Kreis der Einsamkeit, den Harod je gesehen hatte, wo man ihnen sagte, daß sie mit einem anderen Privatflugzeug zu der Insel gebracht werden würden. Es sei denn, sie wollten ein Boot nehmen. Die Entscheidung war Harod nicht schwergefallen.
Die fünfundfünfzigminütige Bootsfahrt war rauh gewesen, aber obwohl er über die Reling hing und darauf wartete, seinen Wodka Tonic und die Snacks vom Flugzeug wieder loszuwerden, war Harod das Schippern von Welle zu Welle lieber, als den achtminütigen Flug erdulden zu müssen. Barents Bootshaus, Jachthafen, wie auch immer, war mit Abstand der eindrucksvollste Schuppen, den Harod je gesehen hatte. Dreigeschossig, Wände aus grauem, verwittertem Zypressenholz, das Innere offen und majestätisch wie eine Kathedrale, wobei Buntglasscheiben genau diese Wirkung noch betonten und Schächte farbigen Lichts auf Wasser und Reihen von Schnellbooten mit Messing und Holz warfen, an deren Bugs steife Wimpel hingen - das Gebäude war wahrscheinlich das protzigste obskure Bauwerk, in dem er je gewesen war.
In der Woche des Sommerlagers waren keine Frauen auf der Insel erlaubt. Das hatte Harod gewußt, aber es war dennoch ein Umstand für ihn, einen
Weitere Kostenlose Bücher