Kraft des Bösen
ins Gesicht. »Melanie«, sagte sie, »sieh mich an.« Es war ein regelrechter Befehl. »Erkennst du mich?«
Der verschmierte Mund der Schwester bewegte sich. »Ich ... ich bin nicht ... es ist schwer zu .«
Natalie nickte langsam. »Fällt es dir nach all den Jahren immer noch schwer, mich zu erkennen? Hast du dich so sehr in dich selbst zurückgezogen, Melanie, daß dir nicht bewußt ist, es kann niemand sonst von dir ... von uns ... wissen, denn wenn sie es wüßten, würden sie dich dann nicht einfach als Gefahr für sich selbst ausmerzen?«
»Willi .« brachte die Clown-Schwester heraus.
»Ah, Willi«, sagte Natalie. »Unsere lieber Freund Wilhelm. Glaubst du, Willi ist schlau genug für das alles, Melanie? Oder derart subtil? Oder hätte Willi die Sache mit dir so bereinigt wie mit dieser Künstlerin im Hotel Imperial in Wien?«
Die Schwester schüttelte den Kopf. Mascara floß aus ihren Augen; Lidschatten war so stark aufgetragen, daß ihr Gesicht bei Kerzenschein wie ein Totenschädel wirkte.
Natalie beugte sich näher hin und flüsterte dicht neben der rougegeschminkten Wange der Frau. »Melanie, wenn ich meinen eigenen Vater getötet habe, glaubst du, ich würde zögern, dich zu töten, wenn du mir wieder in die Quere kommen solltest?«
Die Zeit in dem Haus schien stehenzubleiben. Natalie hätte sich in einem Zimmer mit achtlos bekleideten, beschädigten Schaufensterpuppen befinden können. Die Clown-Schwester blinzelte, ihre falschen Wimpern hingen schief, die Lider bewegten sich in Zeitlupe. »Nina, das hast du mir nie erzählt .«
Natalie wich einen Schritt zurück und stellte zu ihrem Erstaunen fest, daß Tränen ihr über die Wangen kullerten. »Ich habe es überhaupt niemandem erzählt, Teuerste«, flüsterte sie und wußte, ihr Leben war verwirkt, wenn Nina Drayton ihrer Freundin Melanie einmal erzählt hatte, was sie Dr. Saul Laski anvertraut hatte. »Ich war wütend auf ihn. Er wartete auf die Straßenbahn. Ich habe zugestoßen ...« Sie sah rasch auf und schaute der Schwester direkt in die blicklosen Augen. »Melanie, ich will dich sehen.«
Das bemalte Gesicht bewegte sich hin und her. »Unmöglich, Nina, ich fühle mich nicht wohl. Ich .«
»Nicht unmöglich«, schnappte Natalie. »Wenn wir diese Anstrengung gemeinsam fortsetzen wollen - wenn wir das Vertrauen wiederherstellen wollen -, muß ich wissen, daß du hier bist und lebst.«
Alle in dem Zimmer, abgesehen von dem bewußtlosen Jungen und Natalie, schüttelten unisono den Kopf. »Nein ... nicht möglich ... mir geht es nicht gut ...« tönte es aus fünf Mündern.
»Leb wohl, Melanie«, sagte Natalie und wandte sich zum Gehen.
Die Schwester eilte ihr nach und ergriff ihre Hand, bevor sie den Hof erreicht hatte. »Nina ... Darling ... bitte geh nicht. Ich bin so einsam hier. Niemand ist da zum Spielen.«
Natalie bekam eine Gänsehaut und blieb reglos stehen.
»Nun gut«, sagte die Schwester mit dem Totenschädelgesicht, »hier entlang. Aber zuerst ... keine Waffen ... nichts.« Culley kam näher und durchsuchte Natalie, seine gewaltigen Pranken drückten ihre Brüste zusammen, glitten an ihren Beinen hinauf, faßten sie überall an, tasteten, suchten. Natalie sah ihn nicht an. Sie biß die Zähne zusammen, damit sich ihr der aufkeimende hysterische Schrei nicht entrang.
»Komm«, sagte die Schwester, dann formierten sie sich mit Culley als Kerzenträger zu einer feierlichen Prozession vom Salon zum Eingangsfoyer, vom Foyer die breite Treppe hinauf, von der Treppe auf einen Absatz, wo Schatten an einer dreieinhalb Meter hohen Wand tanzten und der Flur so dunkel wie ein Tunnel wartete. Die Tür von Melanie Fullers Schlafzimmer war geschlossen.
Natalie erinnerte sich, wie sie dieses Zimmer vor sechs Monaten mit dem Revolver ihres Vaters in der Manteltasche betreten, die leisen Geräusche im Wandschrank gehört und Saul Laski gefunden hatte. Damals hatte es noch keine Ungeheuer gegeben.
Dr. Hartman machte die Tür auf. Der plötzliche Luftzug blies die Kerze aus, so daß nur das schwache grüne Leuchten der medizinischen Monitore auf beiden Seiten des hohen Himmelbetts blieb. Feine Spitzenvorhänge hingen von dem Baldachin wie verfaultes Wachstuch, wie das dicke Netz im Bau einer Schwarzen Witwe.
Natalie ging drei Schritte weiter und wurde unmittelbar in dem Zimmer von einer raschen Bewegung der schmutzigen Hand des Doktors aufgehalten.
Es war nahe genug.
Das Ding auf dem Bett war einmal eine Frau gewesen. Das Haar war ihr
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