Kraft des Bösen
gesagt, daß Melanie das Gemetzel der ersten Nacht auf der Insel durch die Augen eines Wachmannes mitverfolgt hatte. Natalie hatte ihre ausgeprägteste Nina-Persönlichkeit zur Schau stellen müssen, um Melanie zu warnen, sich nicht zu früh einzumischen und ihre Anwesenheit zu verraten. Justin hatte sie finster angesehen uid eine ganze Stunde lang nichts gesagt, während Natalie hilflos auf Informationen wartete. Darauf wartete, daß die alte Frau in ihre Gedanken eindringen und sie töten würde. Sie beide töten würde.
Natalie saß in dem Haus, das nach Abfall und verfaulenden Lebensmitteln roch, und versuchte, an Rob zu denken, was Rob in so einer Situation sagen, welche Witze er reißen würde. Kurz nach Mitternacht verlangte Natalie in Ninas arrogantem Tonfall, daß ein Licht eingeschaltet werden sollte. Der Riese namens Culley stand auf, schlurfte zu einer Lampe, deren Schirm halb abgerissen war, und schaltete eine einzige 40- Watt-Birne ein. Deren kahler, nüchterner Schein war schlimmer als die vorherige Dunkelheit. Der Salon war voll von Staub, vergessenen Kleidungsstücken, Spinnweben und einem unvorstellbaren Durcheinander verschimmelter Lebensmittel. Ein brauner, halb abgenagter Maiskolben lag unter dem durchgesessenen Sofa. Orangenschalen lagen unter dem georgianischen Teetischchen verstreut. Jemand, wahrscheinlich Justin, hatte übermütig Himbeer- und Erdbeermarmelade auf die Lehnen von Sessel und Sofa geschmiert und festgetrocknete Handabdrücke hinterlassen, die Natalie an getrocknetes Blut erinnerten. Sie hörte Ratten im Gemäuer wuseln, möglicherweise auf den Fluren selbst; der Zugang von den Palmen durch die geborstenen Fensterscheiben, die Natalie jedesmal sehen konnte, wenn sie sich dem Haus näherte, wäre problemlos möglich gewesen. Manchmal hörte sie Geräusche vom ersten Stock, aber die waren so laut, daß sie nicht von Ratten stammen konnten. Natalie dachte an das sterbende Ding, das sie oben gesehen hatte, die alte, runzlige und verkrümmte Frau, die aussah wie eine aus ihrem Panzer gerissene Schildkröte und von intravenösen Nährlösungen und unbarmherzigen Maschinen am Leben erhalten wurde, und manchmal - wenn längere Zeit verging, ohne daß jemand von der obszönen >Familie< sich bewegte oder zu atmen schien - fragte sich Natalie, ob Melanie Fuller nicht möglicherweise doch gestorben war und diese Automaten aus Fleisch und Blut einfach die letzten kranken Hirngespinste eines sterbenden Gehirns ausführten, Marionetten, die zu den Todeskrämpfen des Puppenspielers tanzten.
»Sie haben deinen Juden«, lispelte Justin spät in der zweiten Nacht. Es war nach Mitternacht.
Natalie schreckte aus ihrem Halbdösen hoch. Culley stand hinter dem Sessel des Kindes, sein aufgedunsenes Gesicht wurde von der Glühbirne von unten beleuchtet. Marvin, Howard und Schwester Oldsmith standen irgendwo in den Schatten hinter Natalie. »Wer hat ihn geholt?« keuchte sie.
Im kalten Licht wirkte das Gesicht des Kindes unecht, das Gesicht einer Puppe, in blätterndem Gummi modelliert. Natalie erinnerte sich an die lebensgroße Puppe in Grumblethorpe und stellte mit einem Anflug inneren Fröstelns fest, daß es Melanie irgendwie gelungen war, den Jungen in eine Nachahmung dieses verrottenden Dings zu verwandeln. »Niemand hat ihn geholt«, schnappte Justin. »Sie haben die Gitter vor einer Stunde geöffnet und haben ihn für die nächtliche Vorstellung hinausgelassen. Hast du gar keinen Kontakt, Nina?«
Natalie biß sich auf die Lippe und sah sich um. Jackson saß einen Block entfernt im Auto, Catfish beobachtete Melanie Fullers Haus von gegenüber. Sie hätten sich ebensogut auf einem anderen Planeten befinden können. »Melanie, es ist zu früh«, fauchte ich. »Sag mir, was da vor sich geht.«
Justin ließ seine Milchzähne sehen. »Das glaube ich nicht, Nina, Darling«, zischte er. »Es wird Zeit, daß du mir sagt, wo du steckst, Nina.« Das Gesicht des Kindes war zu einer barbarischen Fratze verzogen, als würde der Kopf der Gummipuppe in unsichtbaren Flammen schmelzen.
»Nein«, sagte Natalie und stand auf. Culley versperrte ihr den Weg zur Tür. Marvin kam um die Ecke des Sofas herum. Er glitt mit der hohlen Hand an der Messerklinge entlang, und die Klinge war feucht von Blut.
»Es wird Zeit zu reden, Nina«, flüsterte Justin. Vom ersten Stock ertönte ein polterndes, rutschendes Geräusch. »Oder für diese hier Zeit zu sterben.«
Der Wind kam vor dem Regen, peitschte die Palmen wütend
Weitere Kostenlose Bücher