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Kramp, Ralf (Hrsg)

Kramp, Ralf (Hrsg)

Titel: Kramp, Ralf (Hrsg) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatort Eifel 4
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gehen, wenn das Ergebnis seinen Zweck erfüllen sollte. Einen so edlen Zweck, eine nahezu heilige Aufgabe ...
    Bei jedem Handgriff hatte er vor Augen, wie es sein würde, wenn alles fertig war, wenn er den roten Knopf neben der Schiebetür drücken würde. Den Knopf, mit dessen Hilfe er das Glück würde einfangen können.
    Stahl war nicht sein üblicher Werkstoff. Er war Schreiner und erledigte seit fast vierundzwanzig Jahren die Bestattungen des Dorfes Gillenfeld. Seit es seine Eltern aus der langgezogenen Kurve oberhalb von Trittscheid herausgetragen und er von einem Tag auf den anderen allein mit der Schreinerei da gestanden hatte.
    Sein Altgeselle Hubert war letzten Herbst in Rente gegangen, seither erledigte Maternus alles alleine. Er hatte keine Familie, der er sich nach Feierabend widmen musste. Er pflegte so gut wie keine Freundschaften im Ort. Er hatte viel Zeit.
    Maternus drehte das Gas ab, und die Flamme erstarb. Dann klappte er die Schutzbrille nach oben und betrachtete die Schweißnaht. Saubere Sache. Schrauben wären viel zu riskant. Schrauben konnte man lösen. Mit einem Messer, einem Ohrring, mit den Fingernägeln sogar, wenn die Verzweiflung besonders groß wurde.
    Begonnen hatte es vor knapp zwei Jahren. An einem lauen Augustabend war etwas geschehen, das seinen festgelegten Alltag für einen kurzen Moment aus der Spur gebracht hatte, und seither knirschte und schwankte es in jeder noch so kleinen Kurve seines Tagesablaufs. Die Konturen seines Lebens hatten sich verschoben.
    Er war ihr begegnet.
    Sie war ihm mitten im Ort vors Auto gelaufen, als er von den Vorbereitungen zu einer Bestattung in Strohn zurückkehrte. Auf dem Platz neben dem Scheunencafé hatte ein Konzert stattgefunden. Es war ein Sommerabend, an dem man mit den Lebenden hätte feiern sollen, anstatt sich um die Toten zu scheren.
    Wie aus dem Nichts war sie plötzlich in der Dämmerung zwischen den parkenden Autos aufgetaucht und hatte für einen Moment wie paralysiert im Licht seiner Scheinwerfer auf der Straße gestanden. Er wurde nach vorne geschleudert, als er hart bremste, und stieß sich am Kopf.
    »Alles in Ordnung?«, hatte sie gefragt, als sie sich wenige Augenblicke später zum Seitenfenster hinunterbeugte. »Tut mir wahnsinnig leid. Ich habe sie nicht gesehen. Ich ... oh bitte, das habe ich nicht gewollt ... Es ist ... ich komme vom Konzert ... tut mir leid, tut mir wirklich schrecklich leid.«
    Er hatte sich den Kopf gerieben und mit einem angedeuteten Lächeln abgewunken. »Nein, nein, ist nichts. Das wird eine Beule, nicht der Rede wert. Ist ja noch mal gut gegangen.«
    Im Hintergrund klang vom Scheunencafé her Dudelsackmusik durch die Abendluft. Die Situation war unwirklich. Er blickte wie gefesselt auf ihren Mund, dessen Lippen sich kreisrund formten, als sie ihren Namen nannte: »Olivia Osterhoven. Ich wohne oben im Rehwinkel. Wenn irgendwas ist ...« Sie hatte sich eine Strähne ihres schwarzen Haars hinters Ohr geschoben und besorgt die Augenbrauen gekräuselt. Ihr Blick war über die Karosserie seines Leichenwagens geglitten. Vielleicht war es ihr wie ein böses Omen vorgekommen.
    »Danke, alles in Ordnung.« Er hatte nicht gewusst, was er noch hätte sagen sollen, sondern hatte stattdessen den Gang eingelegt und war weitergefahren. Im Rückspiegel hatte er gesehen, wie einer der Dudelsackspieler herbeigeeilt kam und sie in den Arm nahm.
    Dann war er um die Kurve gerollt, und wenig später hatte ihn die Dunkelheit seines Hauses in der Nähe des alten Friedhofs geschluckt.
    Er rollte das Schweißgerät in den kleinen Vorraum und stieg ins Haus hinauf. Nachdem er die öligen Finger sauber geschrubbt hatte, erhitzte er ein paar Dosenravioli in der Mikrowelle und folgte, während er aß, teilnahmslos den Bildern der Abendnachrichten. Mit ihren vollen Lippen, die ein O formten und aussahen, als werfe sie ihm einen Kuss zu, hatte sich Olivia Osterhoven in seine Gedanken geschlichen und dort eingenistet.
    Sie war vor vielen Jahren mit ihren Eltern nach Gillenfeld gezogen. Der Vater hatte in der Außenstelle des Verpflegungsamtes der Bundeswehr gearbeitet, in der
Kartoffelfabrik
, wie man das hier nannte. Vor vier Jahren war er nach Berlin versetzt worden, aber Olivia, die eine Grundschule in Wittlich leitete, war aus der Einliegerwohnung im Haus im Neubaugebiet in die Räume ihrer Eltern gezogen. Sie hatte sich dazu entschlossen, in der Eifel zu bleiben.
    Maternus war ein stiller Mann, der gut zuhören konnte, und er

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