Kramp, Ralf (Hrsg)
und nonchalant hinzugesetzt: »Wir wissen aus Ihren Akten, dass Sie Abitur haben und ausführlich studierten, schließlich haben Sie Ihren Doktortitel. Germanistik, wenn ich nicht irre. Wir sind hier keine Unmenschen, nur weil wir Provinz sind. Sie wurden uns vom Land zugewiesen, also müssen wir miteinander klarkommen. Wenn Sie einmal pissen, brauchen Sie nicht gleich die Spülung zu drücken. Auch Wasser kostet. Und reden Sie im Dorf erst gar nicht groß mit Ihren Nachbarn. Die sind nämlich strohdumm und können nicht weiter sehen als bis zu den eigenen Füßen!« Dann lachte er heiter eine Tonleiter und setzte hinzu: »Zweihundertvierzehn hirnamputierte Dorfbewohner, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Die Wohnung lag im ersten Stock eines alten Bauernhauses. Es gab ein Wohnzimmer, eine Küche, ein Bad, ein Schlafzimmer. Alle Räume waren winzig. Statt einer Heizung gab es einen Bollerofen. Alschowski hatte sich auf ein warmes Bad gefreut, es gab jedoch keine Wanne. Stattdessen einen Durchlauferhitzer für eine Dusche, die beide wohl dreißig Jahre alt waren. Als er sich auf das Bett warf, knallte er samt der Sprungfedermatratze explosionsartig auf den Fußboden, und erwägte ernstlich, auf die hölzerne Umrandung des Bettes ganz zu verzichten.
Der Spezialist für Soziales hatte gutmütig gemeint: »Wir werden für Sie kaum einen angemessenen Arbeitsplatz finden. Aber sehen Sie das alles als einen Neuanfang. Ein Anfang macht uns immer stark.«
Es gab Möbel, die uralt und düster waren. Eiche vermutlich, abgesplittert und abgenutzt. Alles knarzte und knarrte, und die hölzerne Treppe machte bei jedem Schritt einen Heidenlärm wie eine große Trommel. Alschowski benutzte sie keuchend viele Stunden lang, in denen er seine viertausend Bücher nach oben schleppte.
So lange, bis die Frau bösartig im höchsten Diskant schrie: »Hören Sie endlich auf mit dem Scheiß da!«
Alschowski schrie wütend zurück: »Halten Sie Ihre vorlaute Klappe, Sie gottverdammtes Fossil!« Dann erschrak er über sich selbst und versuchte sich zu erinnern, wer die alte Frau war. Der Spezialist für Soziales hatte etwas dazu gesagt, aber Alschowski erinnerte sich nur an einige wirklich böse Worte: »Sie ist so leise wie ein Friedhof. Irgendwann wird sie lautlos sterben, und kein Mensch wird es merken. Bis sie riecht.« Dann hatte er wieder eine Tonleiter gelacht.
Also, Regale für die Bücher bauen, dachte Alschowski matt. Aber dann ist gar kein Platz mehr für mich selbst. Er hatte gehört, dass in solchen Häusern in dieser Landschaft Eltern mit sechs oder acht Kindern gehaust hatten, und er fragte sich, ob man sie für die Nacht hatte stapeln müssen.
Er bemerkte, dass jeden Morgen gegen 8.15 Uhr ein kleines Auto vorfuhr und eine junge Frau in das Haus kam. Auf dem Wagen stand:
Liebevolle Pflege zuhause
. Er kam gegen achtzehn Uhr wieder und verschwand dann nach exakt vierzehn Minuten.
Seine erste Erfahrung mit dieser Landschaft machte er bei seinem ersten Einkauf. Er fuhr sehr früh am Morgen mit einem nach Daun, kaufte einige Dinge ein. Konserven, Margarine, Hartwurst, billige Marmelade, einen Karton Eier, drei Kartons billigen Rotwein, Käse, Brot. Dann wartete er auf einen Bus, mit dem er zurückfahren konnte. Das Warten dauerte dreieinhalb Stunden. Alschowski war vollkommen mit den Nerven fertig, bis ein alter Mann ihm zu allem Überfluss freundlich erklärte: »Das Beste ist, wenn du mit jemandem mitfährst, der ein Auto hat. Das geht dann zügiger.« So ein gottverdammter, verfluchter Scheiß!, dachte Alschowski wütend. Das hier ist der Arsch der Welt!
Am achten Tag beschloss er, sich der alten Frau im Erdgeschoss aus Gründen der Höflichkeit vorzustellen. Alschowski glaubte fest daran, dass derartige Annäherungen auch im dritten Jahrtausend mögliche Kriege vermeiden halfen. Er klopfte zaghaft an ihre Wohnungstür, er erklärte: »Ich will nur guten Tag sagen.«
»Komm einfach rein«, sagte sie ruppig. »Wieso kloppst du den ganzen Tag herum? Wieso marschierst du den ganzen Tag rauf und runter?«
»Ich baue mir Regale«, erklärte er. »Aus Brettern. Ich habe sie beim Tischler bestellt. Ich habe viele Bücher.«
»Du liest Bücher?«, fragte sie aggressiv. »Wieso denn das?«
»Ich bin Fachmann für Bücher«, murmelte Alschowski. »Ich bin ein Bibliothekar. Ich bin 48 Jahre alt und arbeitslos. Ich heiße Wilhelm. Und du?«
»Ich bin die Olga aus Berlin«, stellte sie fest. Und dann misstrauisch: »Und wenn du
Weitere Kostenlose Bücher