Kramp, Ralf (Hrsg)
sei schon weg. Der Regmüller, der die Mühle gekauft hatte, ging gern auf die Jagd. Eines Abends sah er bei der Rutschmühle einen riesigen weißen Marder auf dem Mühlrad sitzen. Als er auf das Tier schoss, verschwand es wie von Geisterhand, und in der Fensteröffnung erschien das Gesicht des mörderischen Müllers. Der Regmüller war so entsetzt über diese Erscheinung, dass er fortan bei Nacht nie mehr in die Nähe der Mühle ging
.
Der Ort Schutz in der Eifel – von einem Brudermord ist die Rede, der sich dort vor langer Zeit ereignet haben soll. Man sagt auch, ein Gespenst treibe dort sein Unwesen, der Geist des Peter Ziehls, des Mörders aus der Rutschmühle. Viele haben ihn gesehen. Einigen ist er in der Gestalt eines riesigen weißen Marders begegnet, anderen dagegen als ein wilder Kerl, der bis an die Zähne bewaffnet mit seinen Hunden des Nachts auf die Jagd ging. Die Geschichte ist in verschiedenen Versionen überliefert. Keine der Darstellungen ist gänzlich falsch, aber auch keine ist vollständig richtig. Ich erzähle Ihnen, wie es wirklich gewesen ist.
Im Sommer des Jahres 1815 ging eines Abends eine junge Frau von Wallenborn nach Schutz. Der Weg führte durch den Wald im tiefen Tal des Wallmerbaches. Während die Frau so rasch wie möglich nach Hause strebte, hörte sie plötzlich, dass ihr jemand entgegenkam. Ein Mensch? – Nein, es war eindeutig das Hufgeklapper eines Pferdes. Kurz erwog sie, sich seitwärts im Unterholz zu verbergen, aber während der Weg vom Mondlicht einigermaßen erhellt wurde, lag der Wald im Dunkel. Ehe sie sich entschlossen hatte, auf dem abschüssigen Gelände unterzutauchen, war es ohnehin zu spät. Sie sah jetzt, dass ihr ein einzelner Mann mit einem Pferd entgegenkam. Er ritt nicht, sondern ging neben seinem Tier, das mit einem Sack beladen war. »Ein Räuber«, dachte Maria für einen Moment, denn wer sonst sollte um diese Zeit mit einer so sonderbaren Last durch den Wald ziehen. Doch sogleich war sie erleichtert. Es war kein Räuber, es war Peter Ziehls, der jüngere der beiden Müller aus der Rutschmühle, den sie gut leiden konnte.
»Holla, wen haben wir denn da?«, rief er, als er die junge Frau entdeckte.
»Ich bin es nur, Maria.«
»Maria.« Seine Maria! Von allen Menschen aus dem Dorf war sie der letzte, den er jetzt sehen wollte.
»Was machst du denn um diese Zeit noch im Wald, Pitter?«
Diese Frage konnte er nicht beantworten. »Und du selber?«, fragte er stattdessen.
»Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich war in Wallenborn, bei meiner kranken Mutter.«
Der Müller wusste, dass Maria aus Wallenborn stammte, dem Nachbardorf. Sie war hier in Schutz in der Schmiede als Hausangestellte tätig. Auf dem großen Volksfest nach dem Abzug der Franzosen hatten sie miteinander getanzt, den ganzen Abend, und für den Müller stand fest, dass er Maria heiraten wollte.
»Es ist nicht gut, im Dunkeln allein durch den Wald zu laufen, schon gar nicht, wenn man so ein hübsches junges Mädchen ist.«
»Mir passiert schon nichts«, sagte sie. »Wenn es gefährlich wird, dann laufe ich weg. Ich kann schnell laufen!«
Der Müller kommentierte das nicht. Er wollte ihr keine Angst machen. Allerdings hatte er selbst große Angst, denn in dem Sack, den das Pferd trug, steckte sein toter Bruder.
»So, so, die Maria kann schnell laufen«, sagte er. »Ich glaube, die Maria sollte jetzt zusehen, dass sie rasch nach Hause kommt!«
Es wäre alles gut gegangen, wenn das Mädchen jetzt auf der Seite vorbei gegangen wäre, auf der der Müller stand. Da aber in der Wagenspur auf dem Weg eine große Pfütze stand, passierte sie das Pferd auf der falschen Seite, und so sah sie, was sie auf keinen Fall sehen durfte: Aus dem Sack, der auf dem Rücken des Pferdes lag, ragten zwei Beine.
Maria tat, als ob sie nichts bemerkt hätte, aber es war dem Müller nicht entgangen, dass sie erschrocken zusammenzuckte. »Halt!«, rief er, und als sie nicht sofort stehen blieb, packte er sie am Arm.
»Bitte!«, stammelte Maria.
»Maria, hör mir zu, ich ... – ich hab meinen Bruder erschlagen.« Der Müller war nicht halb so überlegen, wie er dem Mädchen erschien. Ein Raufbold zu sein und sich mit seinem Bruder zu prügeln, das war eine Sache, aber ihn zu erschlagen, das war etwas ganz anderes, und wenn er es hätte ungeschehen machen können, dann hätte er es getan.
»Warum? Warum nur hast du das getan? Wir ... wir wollten doch ...«
»Das will ich noch immer, Maria.«
»Aber das geht
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