Kramp, Ralf (Hrsg)
sprang davon. Nicht lange und sie war im nahen Waldstück untergetaucht. Jost rieb sich die Hände. Die war er los. Aber wer stand da seelenruhig vor dem Tor, als er am Nachmittag die Heimreise antreten wollte? Mary! Hungrig, durstig, erschöpft, aber offensichtlich erfreut, ihn wiederzusehen, schmiegte sie sich an ihn.
Am darauffolgenden Tag ritt Jost mehr als eine halbe Stunde kreuz und quer durch die Gegend, sodass er selbst kaum noch wusste, wo er sich befand, ehe er sie wieder wegschickte. Brav trabte sie davon, nur um ihn bereits auf dem Rückweg zum Hof wieder einzuholen und ihm zu folgen wie ein Schatten.
Am nächsten Tag das gleiche Spiel. Mary kam zurück, da war es schon Nacht, und Jost saß schlaflos am Fenster im ersten Stock. Sie klopfte mit dem Huf gegen die Stalltür und wieherte leise. Jost öffnete das Fenster und beschimpfte sie nach allen Regeln der Kunst. Sie ließ die Flüche über sich ergehen wie einen Regenschauer. Wütend knallte er das Fenster zu und ging schlafen. Am nächsten Morgen stand sie immer noch da, als wäre sie angebunden.
An diesem Tag ritt Jost wieder mit ihr aus, band sie an einen Baum und schlich sich davon.
Bald hörte er die Rufe eines Mannes. »Hallo, Sie da! Sie haben Ihr Pferd vergessen!« Es war der Förster, der für Ordnung im Wald sorgte und ihm Mary eigenhändig hinterherbrachte. Jost stammelte eine Erklärung. Der Förster musterte ihn skeptisch und fragte: »Haben Sie etwa getrunken?«
»Ja«, knurrte Jost und brachte Mary zum Hof zurück.
Sie war wie ein Bumerang.
Pierre beobachtete das Treiben des seltsamen Gespanns mit wachsendem Zorn und begriff, wenn er Ross und Reiter loswerden wollte, musste er sie weit weg bringen, am besten wohl dorthin, wo er sie eingeladen hatte.
»Morgen fahre ich dich und deinen Gaul nach Manderscheid zurück«, verkündete er am Abend des dritten Tages. »Sonst werde ich euch nie quitt. Ihr seid zu blöd, um einen Sack Heu umzuwerfen.«
»Nach Manderscheid?«, fragte Jost entsetzt. »Was soll ich denn in Manderscheid?«
»Dein Problem.«
Und was für eins! Doch nach einer Weile beruhigte sich Jost wieder und sagte sich, dass ihm im Grunde doch die Welt offenstand. Von Manderscheid aus konnte er überall hin reiten, solange er nur einen großen Bogen um Gerolstein machte. Nie wieder Gerolstein! Davon hatte er ein für alle Mal die Nase voll.
Am frühen Morgen setzte sich Pierre hinters Steuer, während Jost Mary zum Anhänger führte, in den sie dieses Mal fröhlich wiehernd hineinsprang. Kaum saß Jost neben Pierre, erklärte dieser: »Ich mach das nicht für dich.« Sein zigarillo wippte bei jedem Wort auf und ab. »Ich mach das für mich. Ich will nicht, dass man diesen Klepper hier findet und dass ich nachher als Pferdedieb dastehe.«
Das verstand Jost auf Anhieb.
Als Pierre ihn und Mary an der Autobahnausfahrt Manderscheid absetzte, sagte Jost: »Tut mir echt leid, dass es so gelaufen ist, glaub mir, ich bringe das in Ordnung, versprochen.«
»Vergiss es!«, knurrte Pierre, ließ den Motor aufheulen und startete durch.
»Bis bald!« Jost winkte ihm hinterher und wandte sich dann an Mary: »Nun zu uns!« Sie ließ ihn klaglos aufsitzen und machte sich prompt auf den Heimweg, den Weg, den sie vor vier Tagen gekommen waren.
»Nein! Vergiss es!«, kommandierte er, riss sie an den Stricken herum und stemmte ihr die Knie in die Flanken. Sie wendete und ließ sich widerwillig durch den Autobahntunnel führen. Jost hatte zwar keine Landkarte im Kopf, aber die A1 hinter sich zu lassen und in Richtung Osten zu reiten, konnte kein Fehler sein. Nach dem Tunnel entschied er sich dem Hinweisschild
Gillenfeld
zu folgen. Er hatte das Gefühl, dass Mary darauf aus war, zeit zu schinden. So sehr er sie auch antrieb, sie trottete vor sich hin, als hätte sie die Bremse angezogen. Die Richtung passte ihr nicht, das war nicht zu übersehen.
Aber er konnte mindestens so hartnäckig sein wie sie. Er wollte sich auf die Suche nach einem neuen Pferd machen und Mary einfach austauschen, aber dieses Mal würde er aufpassen wie ein Luchs. Er würde ein Pferd liefern, zu dem Pierre einfach nicht Nein sagen konnte. Einen Supergaul! »Nicht so einen Klepper wie dich«, knurrte er und blickte auf den mageren Pferdehals hinab.
Eine Weile ging es parallel zur Autobahn, doch an der nächsten Wegbiegung entdeckte Mary eine weitere Autobahnunterführung, bevor Jost es tat, und steuerte sie zielstrebig an, als ahnte sie die neue Chance für eine
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