Krampus: Roman (German Edition)
sie durch den Wald. In der zunehmenden Dunkelheit gab es keinen Grund, ihre Gesichter zu verbergen, und Isabel genoss es, als ihr der Winterwind durchs Haar blies. Krampus’ Blut rann durch ihre Adern und verlieh ihnen weit mehr Kraft und Ausdauer als normalen Menschen. Isabel konnte schneller laufen, weiter springen und ewig lange rennen, ohne zu ermüden. Doch sein Blut brachte noch mehr Veränderungen mit sich: Es weitete ihre Sinne in einer Art und Weise der Wildnis, die kein gewöhnlicher Sterblicher jemals erfahren konnte. Sie roch den würzigen Duft verrottender Blätter unter der Schneedecke und die Fische im Bach, sie hörte die Geräusche einer Eichhörnchenfamilie, die hoch über ihnen in den Wipfeln wohnte, sie konnte sogar das lebendige Pulsieren spüren, das all diesen Dingen innewohnte. Uralte Mächte, dachte sie, älter als der Erdboden unter unseren Füßen. Wenn sie so rannte – wenn sie wie ein Reh durchs Unterholz sprang und Herz und Seele für die Geister der Wildnis öffnete –, dann gelang es ihr beinahe, zu vergessen, was man ihr alles weggenommen hatte.
Sie folgten einem Bach unterhalb der Hauptstraße, umrundeten ein paar Häuser, kletterten eine Böschung hinauf und traten auf einem Platz hinter einer Schule zwischen den Bäumen hervor. Die Schule sah noch genauso aus wie vor vierzig Jahren, als Isabel sie selbst besucht hatte. Sie betrachtete die dunklen Fenster und fragte sich, ob ihr Sohn ebenfalls dorthin gegangen war.
Makwa hob die Hand, und sie blieben stehen. Er zeigte in die dunklen Wolken. Diesmal konnte Isabel zwei dunkle Flecken ausmachen, die in knapp zwei Kilometern Entfernung kreisten, in der Nähe der Grundschule, und sie hörte ihre entfernten Schreie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. »Er ist noch hier!« Isabel schöpfte neue Hoffnung. Diesmal wussten sie, was für einen Wagen der Mann fuhr und wie er aussah. Diesmal würde er nicht davonkommen.
Mit besorgter Miene schüttelte Makwa den Kopf.
»Was ist?«, fragte Isabel. »Stimmt etwas nicht?«
»Sie rufen ihn. Sie rufen Sankt Nikolaus. Er muss ganz in der Nähe sein.«
Seine beiden Brüder nickten zustimmend.
»Wunderbar, einfach wunderbar«, sagte Vernon, wobei seine Stimme einen hysterischen Tonfall annahm. »Was machen wir jetzt?«
»Wir sind zuerst da«, erklärte Isabel.
»Das ist ja schön und gut, aber was, wenn er den Sack längst hat?«
»Dann nehmen wir ihn ihm ab«, erwiderte sie kein bisschen glücklich.
Damit war die Diskussion beendet. Krampus hatte ihnen einen eindeutigen Befehl gegeben. Sie gehörten ihm: Jenes Blut, das ihnen die Fähigkeit verlieh, wie Rehe zu rennen, unterwarf sie auch seinem Willen. Wenn Krampus von ihnen verlangte, dass sie sich die eigenen Handgelenke mit den Zähnen aufrissen und dabei ein Liedchen summten, dann konnten sie sich dem nicht widersetzen. Er hatte ihnen den Befehl gegeben, den Sack um jeden Preis zurückzubringen, deshalb würden sie genau das bis zu ihrem letzten Atemzug versuchen, selbst wenn sie dabei in die Fänge der Weihnachtsmonster gerieten.
»Wir verschwenden unsere Zeit«, sagte Isabel und stürmte los.
Die Belznickel folgten ihr.
Sie rannte so schnell sie konnte, und im Laufen fiel ihr auf, wie schön die Welt um sie herum in ihren unzähligen Blau- und Purpurtönen war. Isabel genoss das winterliche Zwielicht, das in seiner ganzen Pracht die Hügel erhellte, denn sie wusste genau, dass dies vielleicht die letzte Gelegenheit sein würde.
***
Chet stieg aus dem Wagen. »Wusst ich doch, dass wir uns auf dich verlassen können, Jesse.« Er kam auf ihn zu und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Du bist ein ganzer Kerl.« Er nahm Jesses Pick-up genauer in Augenschein und legte den Kopf schief. »Was zum Henker ist mit deinem Auto passiert?«
Lynyrd stieg auf der Beifahrerseite von Chets Chevy aus, stellte sich hinter Jesse und packte ihn am Kragen.
»He«, schrie Jesse. »Lass deine dreckigen Finger von mir.«
»Ganz ruhig«, erwiderte Lynyrd und tastete Jesse weiter ab. Er fand die Pistole in der Jackentasche und angelte sie heraus.
»Wie bitte? Ihr wollt mir die Waffe wegnehmen? Was soll der Scheiß?«
»Beruhig dich, Mann. Du kriegst deine Erbsenpistole zurück, sobald wir hier fertig sind.« Lynyrd legte die Waffe auf die Motorhaube von Jesses Wagen. »Wir wollen nur sichergehen, dass du nichts tust, was du später bereuen wirst.«
»Wie geht’s deiner Hand?«, fragte Chet lächelnd.
Jesse starrte ihn finster an und
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