Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
berühmte Trojanische Pferd besetzen und damit ins Herz der fremden Stadt eindringen. »Eigenverantwortung« will jeder. Doch plötzlich kostet sie 314 Dollar. Wollten Sie keine »Eigenverantwortung«? Das Kalkül der Wortbesetzer: Um ihre Gesundheit wiederzugewinnen, sind die Menschen bereit, fast jeden Preis zu zahlen.
Man muss nur einmal in die fremde Stadt – sprich: das Sozialsystem Gesundheit – hineingelangen, dann kann man sie im Handstreich erobern. Die Stadt hat bald andere Herren, die bestimmen. Gesundheit wird zum Klondike der Gegenwart, zum El Dorado der Goldgräber, zur Wachstumsbranche Nummer eins. Niemand ist mehr da, der Investoren daran hindert, sie als boomenden Wirtschaftszweig zu begreifen. Jedermann, der Geld hat, kann sich ein Geschäftsfeld erschließen, dessen Umsätze und Renditen sich nahezu beliebig steigern lassen. Die US -Gesundheitswirtschaft gibt diesen Weg vor. Skrupel kennt sie so wenig wie diejenigen Ärzte, die sich ihr unterordnen. Zu ihrem ökonomischen Nachteil ist das nicht unbedingt. Viele verdienen gut dabei, geben dafür freilich ihre Unabhängigkeit auf. Frei zu entscheiden, was zur Gesundung des Patienten geboten ist, das war einmal. Die Folge: Das oberste Gebot ihres Berufsstands – den Patienten niemals zu schaden – wird den Zwängen geopfert.
Die US -Gesundheitsversorgung ist mit dem deutschen System (noch) nicht vergleichbar. Ihre Grundzüge, ihre Entwicklung und ihre auf betriebswirtschaftlichen Vorstellungen beruhenden Methoden zu kennen und zu begreifen, bewahrt die Europäer aber vor Reformen, die ihnen gerade mit ungeheurem Druck aufgeschwätzt werden. Das passiert schleichend und birgt gerade deshalb die akute Gefahr, dass die Bürger auf dem alten Kontinent erst aufwachen, wenn es zu spät ist.
Es ist nicht übertrieben, wenn ich mit Michael Moore und anderen Kritikern des US -Gesundheitssystems feststelle: Da geht es über Leichen. »Das Versorgen Kranker kann sehr kostspielig sein. Nur die Reichsten unter uns können es sich leisten, die Behandlungskosten für eine schwere Erkrankung zu bezahlen.« Solche Merksätze der eigenen Gesundheitsforscher regen die 300 Millionen US -Amerikaner nicht mehr sonderlich auf. Durch die 50 Bundesstaaten und die Hauptstadt Washington geht auch kein Aufschrei, wenn die Bewohner erfahren, dass inzwischen gut 46 Millionen ihrer Mitbürger gegen Krankheiten gar nicht versichert und noch einmal bis zu 40 Millionen Menschen unterversichert sind. Dass Arztbesuche, eine dauerhafte Arzneimittelgabe oder ein Klinikaufenthalt oft dazu führen, sich bis über beide Ohren zu verschulden, dafür das Eigenheim zu veräußern und die Alterssicherung aufzubrauchen, wird nicht als Skandal empfunden. Ist die amerikanische Gesellschaft völlig abgestumpft? Geht die individuelle Freiheitsliebe – jeder ist für sein Glück (und eben auch sein Schicksal) selbst verantwortlich – über alles, auch über Leichen?
Präsident Barack Obama will diesen Zustand unter allen Umständen ändern, ja er hat den Erfolg seiner Präsidentschaft an den Umbau dieses Politikfeldes geknüpft. Millionen haben ihn dafür gewählt. Mir raubt es den Atem, wenn ich sehe, wie schwach Obama sich im realen Kampf mit den Giganten der Versicherungswirtschaft und der Pharma- und Medizinkonzerne ausnimmt. Der massive Protest gegen den Versuch einer Sozialreform wird von den Lobbyistenkartellen angefeuert und finanziert. Wir werden es erleben, wer der Stärkere ist. Während Bill Clintons Präsidentschaft waren die Lobbyisten die Sieger in diesem Kampf. Wache Amerikabesucher berichten mir von der sichtbaren, fühlbaren Macht der Versicherungskonzerne. Warum joggt halb New York? Weil Fettleibigkeit ein Versicherungsrisiko ist und weil die Dicken keine Jobs mehr bekommen. Ab einem bestimmten Alter steht der Führerschein zur Disposition. Wer hat es durchgesetzt? Die Versicherungen. Der Staat ist in Sachen Daseinsfürsorge kaum präsent. Das ist das große Geschäft der Versicherungsunternehmen, die unvorstellbare Geldsummen bewegen und ziemlich souverän mit dem leichtgewichtigen Mitspieler »Staat« umgehen. Im Jahr 2009 schnitt ich mir aus der »Zeit« einen Artikel heraus, in dem von einem Unternehmen berichtet wurde, von dem ich noch nie gehört hatte: »Warum redet in Deutschland niemand von AIG , wenn es um die globale Krise geht? Der weltgrößte Versicherungskonzern hat sie mit verursacht! Er bedroht das internationale Finanzsystem noch immer! Mehr als
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