KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
heute als essbar betrachten, ist nicht vom Himmel gefallen. Wir profitieren von einem fortgesetzten Selbstversuch, der vor vielen, vielen Generationen begann und immer noch andauert. Für die Jäger und Sammler der Steinzeit war es überlebensnotwendig herauszufinden, was essbar, was unbekömmlich oder gar giftig ist. Am Anfang standen Selbstversuch und die Gabe der Beobachtung. Ich weiß nicht, ob je ein Mensch auf die Idee gekommen wäre, ausgerechnet Austern zu konsumieren, wenn nicht irgendwer irgendwo einmal Seevögel oder Seeotter beim Verzehr dieser wertvollen Schalentiere beobachtet hätte.
Das Erfolgsgeheimnis des Homo sapiens beruht vermutlich darauf, dass er die Möglichkeit hat, dieses Erfahrungswissen nicht nur horizontal in Familie oder Stamm zu verbreiten, sondern es auch über die Generationen hinweg zu tradieren und zu verfeinern. Es gibt kaum einen anderen Aspekt unseres Daseins, bei dem die kulturelle und die biologische Evolution so eng verzahnt waren, wie bei der Ernährung. Neben dem expliziten Wissen, ob ein Pilz schmackhaft und bekömmlich oder unverdaulich und giftig ist, können auch nicht-bewusste biologische Faktoren zur positiven Selektion bestimmter Nahrungsmittelgeführt haben. Alles, was unserer Gesundheit förderlich ist, erhöht – ganz im Darwinschen Sinn – die biologische »Fitness« und steigert die Chance, uns zu reproduzieren.
Von den bedeutenden Hochkulturen der Antike
bis weit über das Mittelalter hinaus waren die Grenzen zwischen Nahrungsmitteln und Medikamenten fließend. Überschneidungen gibt es bis heute. Im Jargon der Apotheker bedeutet »Droge« noch heute nichts anderes als »getrocknete Pflanze«. Was lag näher, als in Zeiten, die noch keine Apotheken und keine pharmazeutische Industrie kannten, in den Kräutergärten und den Speisekammern nach Substanzen zu suchen, die Heilung oder Linderung von Krankheiten versprechen?
Von einigen Onkologen und Ernährungswissenschaftlern wird eine interessante These vertreten, die weit über einfache Formen der Ad-hoc-Selbstmedikation mit Nahrungsmitteln nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum hinausgeht. Sie glauben, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte tatsächlich Nahrungsmittel unbewusst selektiert worden sein könnten, deren Inhaltsstoffe eine hemmende Wirkung auf die Entstehung von Krebszellen ausüben. 50 Auch wenn diese Idee heute wenig mehr als eine Hypothese ist, halte ich sie nicht nur für sehr charmant, sondern auch für durchaus plausibel. Erstaunlicherweise scheinen nicht nur die sprachbegabten Menschen, sondern auch viele Tierarten in den Medikamentenschrank der Natur zu greifen, wenn sie krank werden. Biologen beobachten das Phänomen der Selbstmedikation von Tieren seit knapp 20 Jahren mit wachsendem Interesse.
Viele Wissenschaftler gingen ursprünglich davon aus, dass es vor allem höhere Pflanzen- und Allesfresser wie Affen und andere Säugetiere sind, welche die Apotheke der Natur zu nutzen wissen. In der Tat gibt es zuverlässige Untersuchungen, die zeigen, dass Affen, wenn sie krank werden, plötzlich bestimmte Pflanzen bevorzugen, die Stoffe enthalten, welche die Heilung ihrer Krankheit fördern. 51 Inzwischen wurde dieses Verhalten aber auch bei anderen, weit primitiveren Tieren beobachtet. Dadurch wurde deutlich, dass es sich hier weniger um ein Produkt von Beobachtungslernen oder gar von explizitem Wissen handeln kann, als um tief in die Biologie der Tiere engrammierte evolutionäre Programme. Sogar Insekten scheinen von der Evolution mit entsprechenden Verhaltensprogrammen ausgestattet worden zu sein: Eine Gruppe amerikanischer Biologen führte Versuche mit der Raupenart Grammia incorrupta durch. Gesunde Raupen lassen eine bestimmte Art von Blättern normalerweise links liegen, selbst wenn sie ihnen auf dem silbernenTablett serviert werden. Diese Pflanzen sind wenig bekömmlich, weil sie große Mengen von sogenannten Pyrrolizidin-Alkaloiden enthalten. Werden die Raupen aber mit einem Parasit infiziert, der eine oft tödliche Infektion hervorruft, fangen sie an, die schwer verdaulichen Blätter zu fressen.
Die Pyrrolizidin-Alkaloide in diesen Pflanzen haben keinerlei Nahrungswert und schmecken den Raupen womöglich auch nicht, für die Parasiten aber sind sie tödlich. Der Konsum der ungeliebten Blätter rettet den Raupen also das Leben. 52 Vielleicht hat sich bei uns über viele Generationen ebenfalls eine Art intuitiver Affinität zu gesunden, möglicherweise gar krebshemmenden
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