KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
für die Labors abzweigen, um vorbeugend entsprechende Tests durchführen? So naheliegend und verlockend dieser Gedanke klingt, er birgt einige tückische Fallstricke. Davon wird im nächsten Kapitel die Rede sein.
7. Kapitel
Fluch und Segen – Nützen Screening und Krebsvorsorge?
Samstag, 16. August 2008
W ieder und wieder kam er dem Rand des steilen Kraters hoffnungsvoll nahe. Und immer wieder waren es die letzten 2 oder 3 Millimeter, die ihn von der Freiheit trennten. Der kleine Sisyphus vor uns trug einen glänzenden Frack aus schwarzem Chitin und war kaum 8 Millimeter lang. Der schwarze Käfer versuchte sich den Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz und ankämpfend gegen Lawinen aus trockenem, feinkörnigem Sand aus einem steilen Trichter zu befreien. Immer wieder kletterte er die Abhänge hinauf, stürzte immer wieder zurück, und so kreiste er nun schon gute fünf Minuten zwischen Kraterboden und Kraterrand.
»Martin, mir geht ein Gedanke nicht aus Kopf, der ist wie der Käfer hier. Er kreist und kreist und kommt nicht vom Fleck.« Mir war zunächst nicht ganz klar, worauf Imogen hinauswollte.
»Weißt du, ich frage mich ständig, ob ich eine Gelegenheit verpasst habe. Sicher, er ist kleiner geworden. Ich glaube, er ist nur noch gut halb so groß wie im April. Aber ich hab’ mich damals im Februar vom Frauenarzt einlullen lassen. Die Geschichte von der Zyste klang so schön, dass sie wahr sein musste. Zwei Monate verlorene Zeit …«
Schon wieder fiel der Käfer dem losen Ostseesand zum Opfer. Eine kühle Böe wehte über die Lübecker Bucht, kräuselte das Wasser und zerbrach das Sonnenlicht auf der Meeresoberfläche in Millionen Fragmente.
»Unangenehmer Gedanke, aber unwahrscheinlich. Schon im Februar saßen dort Millionen Krebszellen. Solche Zellen gehen in deinem Körper nicht einfach auf Wanderschaft. Sie werden es nicht ausgerechnet in diesen acht Wochen gelernt haben.« Der Käfer krabbelte wieder zum Rand.
»Hätte ich zur Vorsorge gehen sollen? Hätte ich irgendwas tun können, das Desaster früher zu entdecken, zu einem Zeitpunkt, an dem bestimmt noch nichts gestreut hat, als der Krebs noch harmlos war?«
Ich nahm sie in den Arm. »Nein! Nein! Nein! – Du hast nichts verpasst – definitiv. Und überhaupt ist es mit der Krebsvorsorge eine komische Sache. Die Idee klingt so einfach, fast zu gut, um wahr zu sein, aber im Detail stecken viele, viele kleine Teufelchen …«
• • •
Schwer ächzend versuchte Frau H., sich zwischen Röntgenröhre und Detektor durch den C-Bogen hindurch auf die schmale Untersuchungsliege zu zwängen. Ihre Operation lag bereits sechs Wochen zurück, aber sie haderte immer noch mit ihrem Schicksal. Die Gebärmutter, die Eileiter und die Eierstöcke hatten entfernt werden müssen, nachdem ihr Frauenarzt einen kleinen, aber bösartigen Tumor in ihrer Gebärmutter entdeckt hatte. Frau H. hatte Glück im Unglück. Ihr Tumor war früh entdeckt worden, ihre Heilungschancen waren ausgezeichnet. In vergleichbarer Situation können 19 von 20 Frauen auch auf lange Sicht als geheilt gelten. Im Anschluss an die Operation waren ihr noch drei Nachbestrahlungen der oberen Scheide geraten worden, um das Rückfallrisiko auch dort, wo die Chirurgen nur knapp am Tumor entlang schneiden konnten, noch weiter zu minimieren.
Trotzdem war Frau H. außer sich. Während der wenigen Minuten im Vorbereitungsraum der Strahlentherapie versicherte sie mir mehrfach, sie könne sich überhaupt nicht erklären, warum ausgerechnet sie an Krebs erkrankt sei. Vorzuwerfen habe sie sich nichts, sie hätte immer gesund gelebt – und überhaupt, sie sei schließlich seit Jahren regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung gegangen.
Ähnliche Bemerkungen höre ich oft. Sie deuten ein großes Missverständnis darüber an, was eine Krebsvorsorge leisten soll und kann. Eine Krebsvorsorgeuntersuchung hat keinerlei Einfluss darauf, ob Krebs entsteht oder nicht. Sie kann lediglich eine Krebserkrankung so früh wie möglich erkennen helfen. In manchen Fällen können im Rahmen der Vorsorge allerdings auch Krebsvorstufen entdeckt werden, so dass durch die Entfernung solcherart veränderten Gewebes schon der Übergang in einen bösartigen Tumor verhindert werden kann. Trotzdem wäre es korrekter, von Programmen zur Früherkennung und nicht zur Vorsorge von Tumoren zu reden.
Der Begriff Krebsvorsorge
ist also irreführend. Er hat sich allerdings in der Öffentlichkeit, in den Medien und auch im medizinischen
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