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Kreuz des Südens

Kreuz des Südens

Titel: Kreuz des Südens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Geschäftsbüro des Verwalters vorbei und die Hollywood Avenue entlang. Jed wäre in wenigen Augenblicken direkt auf die Statue zugerollt, wenn er nicht im letzten Moment in die Confederate Avenue anstelle der Eastvale eingebogen wäre.
    Es war Brazil völlig klar, weshalb die Medien, die Phantasielosen, die Unsensiblen, die Nachtragenden und jene Bürger, die in Richmond nicht einheimisch waren, den Hollywood-Friedhof gleichgültig als die Stadt der Toten bezeichneten. Als Brazil und Weed immer weiter gingen und immer weniger Ahnung hatten, wo sie sich befanden, schmolz Brazils Respekt vor der Geschichte und seinen Toten vor Ermüdung und Frustration ziemlich dahin. Der berühmte Friedhof verwandelte sich in eine herzlose, ungastliche Metropolis mit antik anmutenden Wegen, die zwar gepflastert waren und Namen hatten, die jedoch von hochgeborenen Familien angelegt worden waren, die ohnehin wussten, wo sie hin wollten.
    Es war unmöglich, ohne Lageplan oder höheres Wissen irgendeine Sektion, einen bestimmten Namen oder den Weg nach draußen zu finden, es sei denn, man hatte höllisches Glück. Brazil, musste man leider sagen, ging nach Westen statt nach Osten.
    »Tut's weh?«, fragte Brazil seinen Gefangenen. Als Brazil sich auf ihn geworfen hatte, hatte Weed sich das Kinn aufgeschnitten. Weed blutete. Brazils Tag war, wenn das überhaupt ging, noch fürchterlicher geworden. Die Polizeiwache würde keinen Jugendlichen aufnehmen, der sichtbar verletzt war. Weed musste ärztlich versorgt werden, was bedeutete, dass Brazil keine andere Wahl hatte, als Weed in eine Notaufnahme zu bringen, wo die beiden voraussichtlich den ganzen Tag sitzen würden.
    »Ich spüre überhaupt nichts.« Weed zuckte mit den Schultern und drückte in Ermangelung eines Pflasters eine von Brazils Socken auf das verletzte Kinn.
    »Es tut mir wirklich Leid«, entschuldigte sich Brazil noch mal. Sie gingen die Waterview entlang zur New Avenue, wo Weed anhielt, um über das aus Marmor und Granit erbaute Grabmal des Tabakmoguls Lewis Ginter zu staunen. Er konnte es einfach nicht glauben: schwere Türen aus Bronze, korinthische Säulen, Fenster von Tiffany.
    »Sieht aus wie eine Kirche«, schwärmte Weed. »Ich wünschte, Twister hätte so etwas.«
    Schweigend gingen sie weiter. Brazil erinnerte sich, dass er sein Funkgerät wieder anstellen sollte.
    »Haben Sie schon mal jemanden verloren?«, fragte Weed.
    »Meinen Vater.«
    »Ich wünschte, meiner wäre tot.«
    »Das meinst du nicht im Ernst«, sagte Brazil.
    »Was ist mit Ihrem passiert?« Weed sah zu ihm auf.
    »Er war Polizist. Wurde im Dienst getötet.« Brazil dachte an das kleine schlichte Grab in der College-Stadt Davidson. Die Erinnerungen an den Sonntagmorgen im Frühling, als er zehn Jahre alt war und das Telefon in dem einfachen Holzhaus auf der Main Street geläutet hatte, waren immer noch lebendig. Er konnte seine Mutter immer noch schreien hören. Sie hatte gegen Schränke geschlagen, geheult, mit Sachen geworfen, während er sich in seinem Zimmer versteckte und wusste, was passiert war, ohne dass man es ihm gesagt hätte. Wieder und wieder hatte das Fernsehen gezeigt, wie man den blutüberströmten, nur mit einem Tuch bedeckten Leichnam seines Vaters in einen Krankenwagen verlud. Durch Brazils Kopf rumpelte eine endlose Schlange von Polizeiwagen und Motorrädern mit eingeschalteten Scheinwerfern, und er sah Ausgehuniformen mit schwarzem Trauerflor »Sie hören mir gar nicht zu«, sagte Weed. Brazil war wieder da, entnervt und aufgewühlt. Der Friedhof begann ihn zu erdrücken, ihm mit seinen stechenden Gerüchen und unaufhörlichen Geräuschen die Luft zu nehmen. Der Funk erinnerte ihn daran, dass er nochmals nach einem zehn-25 rufen sollte, aber das würde er nicht tun. Brazil würde nicht zulassen, dass das gesamte Polizei-Department inklusive West erfuhr, dass er sich mit einem vierzehnjährigen Graffiti-Künstler auf dem Hollywood-Friedhof verlaufen hatte. Sie gingen zurück auf die New Avenue. Und da sahen sie auf einmal am westlichen Ende des Friedhofs etwas um die Ecke fahren und in die Midvale einbiegen. In der Ferne meinten sie, einen langen schwarzen Leichenwagen zu erkennen, der mit großer Geschwindigkeit auf sie zukam.
    An Gouverneur Feuers getönten Scheiben rauschten Friedhofsmonumente, Grabsteine und Stechpalmen vorüber. Soeben beendete er ein weiteres Telefonat und hatte nun all seine Geduld und Bereitschaft, zweite Chancen zu gewähren, verloren. Jed fuhr zu

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