Kreuz des Südens
hinüber zu einer kleinen Kammer und holte sich den Kunststoffkoffer mit den Sabians. Er öffnete ihn und hob liebevoll die schweren Becken aus Messing heraus. Er überprüfte die Schlaufen, ob auch die Knoten hielten, führte die Finger hinein, die Daumen drüber und hielt die Becken im richtigen Winkel vor sich, das linke etwas höher als das rechte.
Sticks öffnete die Augen und nickte Weed zu. Weed schlug auf das linke Becken, prallte mit dem rechten ab, unterstrich damit das Schlagzeug und die Snaredrum mit einem euphorischen hellen Sound.
»Do it, baby!«, schrie Sticks und legte los. Es klang wie ein musikalisches Gemetzel. Sticks schlug, hämmerte und dröhnte in einem Rhythmus, der das Blut hochkochen ließ, und Weed vollführte eine Mischung aus Marsch und Tanz und ließ die Becken knallen und fliegen, wirbeln und blitzen. »Go! Go! Oh yeah!« Sticks war begeistert. Weed legte einen Moonwalk hin, während heller Klang aus den Becken schwoll, mal in Stakkato, dann wieder lang. Er überhörte das Läuten, aber schließlich sah er die Uhr an der Wand. Schnell packte er die Becken weg und lief zu Mrs. Grannis' Kunstraum. Er kam zwei Minuten zu früh und war der Erste. Sie schrieb gerade etwas auf einer weißen Tafel und drehte sich um, um zu sehen, wer gekommen war. »Konntest du während deiner freien Zeit viel schaffen?«, fragte sie Weed.
»Ja, Ma'am.« Weed wich ihrem Blick aus.
»Ich wünschte, jeder wäre so computerversessen wie du.« Sie begann wieder zu schreiben. »Hast du schon eine Lieblingssoftware?«
»QuarkXPress, Adobe Illustrator und Photoshop.«
»Du scheinst den Bogen ja wirklich raus zu haben«, sagte sie, er suchte sich einen Platz an einem der Tische aus und verstaute seinen Rucksack unter dem Stuhl.
»Leichtigkeit«, murmelte Weed.
»Hast du schon aufgeschrieben, was du dir zu deinem Fisch gedacht hast?«, fragte Mrs. Grannis und fuhr fort, das Projekt dieser Woche in langen, verschlungenen Buchstaben an die weiße Tafel zu schreiben.
»Ja, Ma'am«, antwortete Weed mürrisch und öffnete sein Heft.
»Ich kann's gar nicht erwarten, deine Geschichte zu hören«, fuhr sie fort, ihn zu ermutigten. »Du bist der Einzige in der Klasse, der sich einen Fisch ausgesucht hat.«
»Ich weiß«, sagte er.
Die Aufgabe der letzten zwei Wochen war gewesen, aus Pappmache eine Figur zu formen, die für den jeweiligen Schüler Symbolkraft hatte. Die meisten suchten sich ein Symbol aus der Mythologie oder der Folklore aus, wie zum Beispiel Drachen oder Tiger oder Raben oder Schlangen. Doch Weed hatte einen grausamen blauen Fisch geschaffen. Der klaffende Mund war voll blutiger Zähne, und aus kleinen Spiegeln hatte er glitzernde Augen gemacht, die jeden anfunkelten, der vorbeilief.
»Ich bin sicher, dass auch die anderen Schüler es nicht erwarten können zu hören, was hinter deinem Fisch steckt«, sagte Mrs. Grannis und fuhr fort zu schreiben.
»Machen wir als nächstes Aquarelle?«, fragte Weed interessiert und versuchte zu entziffern, was sie schrieb.
»Ja. Eine Stilllebenkomposition mit reflektierenden Elementen und Oberflächen mit Struktur.« Sie schrieb schwungvoll. »Und ein 2-D-Objekt, das aussieht wie ein 3-D-
Objekt.«
»Mein Fisch ist dreidimensional«, sagte Weed, »weil er echten Raum einnimmt.« »Das ist richtig. Und welche Wörter benutzen wir dazu?«
»Über, unter, durch, hinter und herum«, rezitierte er. In Kunst konnte Weed sich an alles erinnern, es musste noch nicht mal fett sein.
»Freistehend oder umgeben von negativen Flächen«, fügte er hinzu.
Mrs. Grannis legte ihren Magic Marker weg. »Und wie würdest du deinen Fisch dreidimensional gestalten, wenn er tatsächlich nur zweidimensional wäre?«
»Mit Licht und Schatten«, antwortete er schnell.
»Chiaroscuro.«
»Kann ich leider nicht aussprechen«, sagte Weed. »Eben, was man macht, um ein Weinglas dreidimensional aussehen zu lassen anstelle von flach. Dasselbe wie bei einer Glühbirne, einem Eiswürfel oder etwa Wolken am Himmel.« Weed sah die Schachteln mit den Pastellfarben, das 140 Gramm schwere Grumbacher Papier, das er nur für Reinzeichnungen verwenden durfte. Da stand ein Regal voll von Klebstoff, Farbstiften und Schachteln mit Crayola-Temperafarben, die er für seinen Fisch benutzt hatte. Auf dem Tisch in der Ecke des Raums befanden sich die Computer für Grafik, die ihn daran erinnerten, was er Geheimes getan hatte.
Jetzt kamen auch die Schüler herein und rückten Stühle. Sie grüßten
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