Kreuz des Südens
verbessern oder verschlimmern würde. Er versuchte es und machte sich einen Schinken-Käse-Toast, der seinen Magen beruhigte.
Er ging durch die Diele, blieb vor der Zimmertür seines Bruders Twister stehen und öffnete sie. Weed starrte auf all die Basketball-Trophäen und Poster, das ungemachte Bett, den unordentlichen Teppich; auf dem Boden ein T-Shirt der University of Richmond, auf dem Schreibtisch der Computer. Alles war genau so, wie Twister es, als er das letzte Mal in seinem Zimmer war, hinterlassen hatte; an jenem 23. August, einem Sonntag, hatte Weed ihn das letzte Mal lebend gesehen. Weed ging hinein und stellte sich vor, er könnte Twisters Eau de Cologne »Obsession« riechen, sein Lachen und seine stichelnden Reden hören. Er stellte sich vor, Twister säße mitten im Zimmer auf dem Boden, seine langen muskulösen Beine vor sich, zöge eben seine Schuhe an und würde Weed seine »winzige Minute« nennen.
»Schau, man braucht sechzig für eine Stunde«, würde er sagen. »Ich weiß, dass du im Rechnen eine Null bist, aber glaub mir. Bald wirst du eine Stunde sein, dann ein Tag, dann eine Woche und dann ein Monat. Und dann wirst du genauso groß sein wie ich.«
»Werd ich nicht«, sagte Weed. »Du warst zweimal so groß wie ich, als du in meinem Alter warst.«
Dann würde Twister aufstehen und mit einem unsichtbaren Basketball dribbeln. Er würde auf Weed zugehen, nach links und rechts antäuschen, den Ball nahe am Körper, die Ellbogen mal hier, mal dort.
»Die Zeit läuft, und ich habe noch eine winzige Minute!« Twister würde lachen, nach Weed greifen, ihn auf das Bett werfen und mit ihm auf und nieder hopsen, bis Weed vor Freude schwindelig würde.
Weed ging hinüber zum Schreibtisch und setzte sich. Er schaltete den Computer an, das einzige, das er je im Zimmer seines Bruders berührte, denn Twister hatte Weed beigebracht, wie man den Computer bedient. Weed loggte sich in AOL ein, schrieb eine E-Mail an Twisters Mailbox und sah nach, ob sonst noch wer was geschickt hatte. Außer den Nachrichten, die Twister täglich von Weed bekam, war nichts drauf.
Hallo, Twister, liest du meine Briefe? Sie sind noch nicht geöffnet worden, aber ich wette, dass du sie gar nicht öffnen brauchst wie die anderen Leute. In deinem Zimmer habe ich nichts verändert. Mama geht hier nicht rein. Sie lässt die Tür immer zu.
Weed wartete darauf, dass er gleich eine Antwort bekam. Irgendwie glaubte er fest daran, dass ihn Twister eines Tages über Computer kontaktieren würde. Er würde schreiben: Was ist los, winzige Minute? Ich bin sehr froh, dass du mir schreibst. Ich sehe alles, was du machst, also halt die Ohren steif. Weed wartete und wartete. Dann meldete er sich ab und löschte das Licht. Für eine Weile stand er in der Zimmertür, zu niedergeschlagen, um sich zu bewegen. Dann ging er in sein Zimmer und stellte den Wecker auf 2 Uhr 45. »Warum bist du nicht da?«, fragte er Twister. Die Dunkelheit hatte keine Antwort für ihn. »Warum bist du nicht da, Twister! Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, Twister. Mama kommt nicht mehr nach Hause. Sie arbeitet so viel, als hätte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen oder so was. Sie schläft, steht auf und geht. Sie redet kaum noch, seit du nicht mehr da bist. Daddy macht ihr schwer zu schaffen, und ich habe jetzt Smoke am Hals. Vielleicht bringt er mich um, Twister. Das könnte er nicht, wenn du noch da wärst.« Weed schlief ein und redete weiter mit Twister. Er schlief schlecht, den Kopf voll grausamer Träume. Er wurde von einem Müllwagen gejagt, der sich ihm in einer dunklen Straße mit schrecklichen, kratzenden Geräuschen näherte. Wohin Weed sich auch wandte, blieb der Müllwagen ihm immer auf den Fersen. Er schwitzte, sein Herz raste. Dann klingelte der Wecker.
Rasch griff er zum Nachtkästchen und stellte ihn ab. Er horchte, wagte kaum zu atmen und hoffte, dass seine Mutter schlief.
Weed machte Licht, zog sich schnell an. Er ging hinüber zu seinem kleinen Kartentisch unter dem Fenster, setzte sich und überlegte, was er alles brauchte, um eine Metallstatue zu bemalen. Er wünschte, er hätte Officer Brazil gesagt, was los war und weshalb er das Tattoo hatte. Aber Weed wusste, dass Smoke ihn erwischen würde. Irgendwie würde Smoke es schaffen. Die große Frage war, ob er lieber Öl oder Acryl benutzen sollte. Er stöberte durch das Regal mit seinen kostbaren Malutensilien, sah liebevoll durch den Bob-RossMeistermalkasten, für den seine Mutter
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