Kreuzberg
noch einmal in Ruhe umsehen. Hünerbein mag zwar mit seiner
Astrologie spinnen, in einem aber hat er recht: Wo bleibt der kriminalistische
Instinkt? Ich setze mich auf das IKEA -Sofa und lasse den Raum auf
mich wirken. Vielleicht kann ich ja so eine wichtige Intuition aus mir
herauskitzeln. Ich starre auf das Billy-Regal gegenüber, den Fernseher und die
HiFi-Anlage. Die Spurensicherer haben überall ihr schwarzes Pulver
hinterlassen, mit denen sie Fingerabdrücke sichtbar machen und abnehmen können.
Es sieht aus wie Ruß. Als hätte es in der Wohnung gebrannt.
Im Hausflur
höre ich Schritte. Irgendwer kommt die Treppe hoch und bleibt genau vor der
Wohnungstür stehen. Ein neugieriger Mieter? Tatsächlich wird die Wohnungstür
geöffnet, im Flur knarren die Dielen. Ich erhebe mich lautlos vom Sofa, drücke
mich an der Wand entlang und verschwinde rasch im angrenzenden Schlafzimmer.
Wenig
später kommt ein recht korpulenter Mann mit Stirnglatze ins Wohnzimmer und
schaut sich aufmerksam um. Ich beobachte ihn durch den Spalt der nur
angelehnten Schlafzimmertür. Der Mann hat eine abgewetzte Aktentasche dabei und
sieht in seinem dunkelblauen Anzug und der Krawatte sehr geschäftsmäßig, wenn
auch etwas irritiert aus. Wie ein Versicherungsvertreter, der um seine
Provision fürchten muss, weil ihm ein Kunde abhanden gekommen ist. Unschlüssig
stellt er seine Tasche ab. Seine Blicke wandern durch den Raum, bleiben kurz an
der Schlafzimmertür hängen.
Hastig
drücke ich mich weg. Ob er mich gesehen hat?
Kaum, denn
kurz darauf höre ich ihn im Zimmer umherlaufen, sodass ich mich wieder an den
Türspalt wage. Der Mann hat sich feine schwarze Glacélederhandschuhe
übergezogen und öffnet vorsichtig die Schubladen der kleinen Kommode am
Fenster. Sucht er den einen Ordner, den er beim letzten Mal vergessen hat? Die
Unterlagen zu Swantje Steffens prekärer Situation? Oder etwas anderes? Er wird
nichts mehr finden, denn Damaschke hat mit seinen Leuten alles aus der Wohnung
geholt, was uns noch irgendwie als Hinweis brauchbar erschien.
Genervt
wühlt der Mann das Billy-Regal durch und den kleinen Schreibtisch, um
unvermittelt innezuhalten. Wieder schaut er zu mir herüber, zur
Schlafzimmertür, hinter der ich stehe, und wartet. Hat er gemerkt, dass er
beobachtet wird? Manche Leute sollen so was ja spüren.
»Ist da
wer?« Seine Stimme klingt sehr ruhig und gelassen. Sie passt so gar nicht zu
der Browning, die er gleichzeitig aus der Innentasche seiner Anzugjacke zieht.
Eine FN HP , Kaliber 7.65,
das Ding hat ordentlich Durchschlagskraft.
Rasch trete
ich von der Tür weg. Zumindest in amerikanischen Filmen gibt es ja diese Typen,
die erst mal prophylaktisch durch geschlossene Türen ballern, bevor sie einen
Raum betreten.
»Kommen Sie
raus!« Der Mann im Wohnzimmer entsichert die Waffe geräuschvoll.
Hat er mich
gesehen oder gehört? Vielleicht blufft er nur. Ich rühre mich nicht vom Fleck,
halte die Luft an, warte.
Ich spüre
förmlich, wie sich der Mann nähert. Ich höre ihn nicht, er ist ganz leise, aber
ich weiß, dass er kommt. Dass gleich die Tür auffliegt und der Kerl im Zimmer
steht. Und dann?
Mein ganzer
Körper vibriert vor Anspannung. Schweiß tritt mir auf die Stirn, und ich habe
Angst. Aber ich habe auch einen Vorteil. Ich weiß, was mich erwartet. Der
Anzugträger dagegen hat keinen Schimmer. Er geht mit einer Browning bewaffnet
auf eine ihm fremde Tür zu. Im Raum dahinter könnten fünfzig Bewaffnete auf ihn
lauern, eine Bombe oder nichts – er muss auf alles gefasst sein.
Mein
Überleben hängt davon ab, dass ich etwas tue, auf das er nicht gefasst ist. Nur
dann habe ich eine Chance.
Schon wird
die Tür aufgestoßen. Sie schwingt leicht knarzend auf, knallt gegen die Wand
und fällt wieder ein Stück zurück. Aber nicht sehr viel, wahrscheinlich hält er
sie mit der linken Hand, dem rechten Fuß oder dem Ellbogen auf.
Der Mann
sieht jetzt das Bett gegenüber, ein Doppelbett, frisch bezogen, es wirkt wie
ungenutzt. Er sieht den schmalen Läufer davor und den Nachttisch daneben. Über
dem Bett hängt ein Stillleben, auch das wird ihm auffallen, Herbstblumen in
einer rundbauchigen Vase im späten Sonnenlicht. Und er wird den Kleider-
schrank rechts registrieren. Dort könnte sich durchaus jemand drin versteckt
haben.
Trotzdem
wird sich der Mann mit der Browning sofort nach links wenden, wenn er
reinkommt, weil links die einzige Seite ist, die er bislang nicht einsehen
kann. Und links stehe ich.
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