Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Erleichtert lief sie darauf zu, in der Hoffnung, hier Hilfe und Auskunft zu erhalten.
Auf ihr Klopfen an der aus groben Planken zusammengezimmerten Tür antwortete niemand. Sie schob den Riegel zur Seite und lugte ins Innere. Die Hütte war kaum mehr als ein Unterstand und vermutlich nur bewohnt, wenn die Köhler ihrer Arbeit nachgingen. Ein Strohlager und ein paar Decken, eine Bank und ein wackeliger Tisch bildeten die Einrichtung. Vollkommen unpassend stand die schön geschnitzte Truhe daneben.
Die Angst war vergessen, die Neugier erwachte. Toni trat ein und betrachtete die Truhe. Sie war mit Metall beschlagen, doch die beiden Schlösser waren mit Gewalt aufgebrochen worden. Der Deckel ließ sich aufheben, und im Inneren leuchteten Toni glühende Farben entgegen.
»Oh!« Ein Ausruf des Entzückens kam von ihren Lippen. Vorsichtig hob sie die Pergamentstapel heraus und betrachtete die farbenprächtige Malerei. Die Einbände der Bücher waren roh entfernt worden, vermutlich waren sie mit Gold und Edelsteinen besetzt gewesen. Die einzelnen Blätter lösten sich aus der Bindung, als sie es auf den Tisch legte. Die Aufmachung hingegen begeisterte sie. An den Rändern umgaben wunderschöne Blumenranken die Seiten, und die akkurat geschriebenen Texte waren mit zierlichen Schnörkeln versehen. Die Schrift selbst machte ihr Mühe, und das Wenige, was sie entziffern konnte, waren Worte in einer ihr nicht geläufigen Sprache. Trotzdem behandelte sie die Werke mit Achtung. Sie waren so schön. Noch schöner fand sie die Bilder. Sie leuchteten wie die Glasfenster einer Kirche aus einer dunkelblauen Umrandung. Einige Szenen waren ihr aus den Heiligengeschichten vertraut, die sie von Elisabeth gehört hatte. Dort watete ein Christophorus mit dem Kind auf der Schulter durch die Fluten, hier litt ein von Pfeilen verwundeter Sebastian, David trat mit seiner Schleuder gegen Goliath an und Ursula traf mit ihren Frauen am Stadttor von Köln ein.
Ein Eichelhäher kreischte auf, und Toni zuckte zusammen. Plötzlich war ihr bewusst, was sie hier in den Händen hielt – Diebesgut.
Denn was hätte ansonsten dieses kunstreich bemalte Pergament in einer Köhlerhütte zu suchen gehabt? Schnell sortierte sie die Seiten wieder zusammen und wollte sie in die Truhe zurücklegen. Da fiel ihr die Lederrolle auf, die ebenfalls darin lag. Sie lauschte nach draußen, trat vorsichtig vor die Tür und vergewisserte sich, dass keine Menschenseele in der Nähe war. Dann machte sie die Rolle auf und staunte über das fest zusammengewickelte Pergament. Sie zog es heraus und rollte ein Stückchen davon auf. Doch welche Enttäuschung war das gegenüber den bunt illuminierten Handschriften. Nur ein mit bräunlicher Tinte gezeichnetes Kirchenportal sah sie, dann Bogenfenster, Wimperge, Säulen, Fialen. Enttäuscht rollte sie es zusammen und steckte es in seinen Behälter. Dann legte sie auch die Buchseiten zurück in die Truhe. Wie der Zufall es wollte, löste sich dabei das Blatt mit dem Abbild der heiligen Ursula. Toni konnte nicht widerstehen. Diebesgut war es, und sicher ein Unrecht, etwas davon mitzunehmen. Aber dieses Bild wollte sie nun einmal gerne besitzen. Vorsichtig drehte sie es zusammen und steckte es in ihre Jacke. Dann verließ sie die Hütte und machte sich erneut, diesmal mit mehr Glück, auf die Suche nach dem Heimweg.
Das Donnerwetter, das Elisabeth ihr angedeihen ließ, war von ähnlicher Heftigkeit wie das Gewitter am Nachmittag. Gebührend zerknirscht ließ Toni den Kopf hängen und versprach, keinen Schritt mehr alleine zu unternehmen.
»Wirst auch keine Gelegenheit haben dazu. Am Montag brechen wir auf«, verkündete ihre Mutter, und zog das Mädchen dann an sich. »Verdammt, ich hatte solche Angst um dich!«
»Ich weiß, Mama. Es tut mir so leid.«
Von ihrem Fund in der Köhlerhütte jedoch verriet sie nichts. Es hätte, vermutete sie, ihre Mutter nur weiter aufgeregt zu wissen, dass es wirklich Diebe gegeben und sie Teile ihrer Beute gefunden hatte.
Im Dorf ging es lebhaft zu, denn die restlichen Heereskolonnen waren inzwischen eingetroffen. Den Sonntag verbrachte man noch im Quartier, dann würden sie die Grenze nach Westfalen überschreiten.
Toni wurde von Elisabeth angehalten, zur Beichte und zur Messe zu gehen, und in der kleinen Pfarrkirche von Altenkleusheim erleichterte Toni ihr Gewissen. Nur das Blatt mit dem Bildnis der heiligen Ursula verschwieg sie dem Priester. Schweigen war ja nicht lügen,
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