Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
geschnittenes Gesicht, das vage bekannte Züge trug. Aristokratische Züge. Und er war beharrlich. Obwohl sich Cornelius noch immer jede Reaktion verbot, sprach er weiter auf ihn ein.
»Ich möchte dich nicht mit Nummer sechshundertvierundneunzig anreden, darum solltest du mir deinen Namen nennen. Sie legen es darauf an, unsere Persönlichkeit zu vernichten, und nichts ist schlimmer, als sie zu verlieren. Es raubt einem im Laufe der Zeit jedes Selbstbewusstsein, weißt du?« Es musste ein winziges Aufzucken des Verstehens in Cornelius’ Gesicht zu erkennen gewesen sein, denn der Ältere lächelte ihn an. So, dass der Aufseher es nicht hören konnte, murmelte er: »Du verstehst mehr, als du zugeben willst. Das mag klug sein, mein Freund. Keine Angst, ich verrate dich nicht. Wir müssen das hier gemeinsam durchstehen, vermutlich für viele Jahre. Wir sind gezwungen beieinanderzubleiben, und das ist demütigend genug. Wir schlafen auf einer Pritsche, wir arbeiten und essen nebeneinander, und wir werden gemeinsam die Latrine benutzen. Versuchen wir, so weit es geht, unsere gegenseitige Würde zu wahren.«
Cornelius lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Möglicherweise meinte es dieser Pierre wirklich gut. Aber zu viel Freundlichkeit machte ihn misstrauisch. Er hatte seine Beobachtungen und Erfahrungen auf dem langen Weg zum Bagno gemacht. Trotzdem sah er die Notwendigkeit ein, eine friedfertige Beziehung zueinander aufzubauen, um zu überleben. Darum flüsterte er: »Nenn mich Cornelius. Zehn Jahre, wegen Falschspielens.«
»Gut, Cornelius. Danke.«
Danach respektierte Pierre sein weiteres Schweigen.
Sie mussten arbeiten, schwer arbeiten. Es galt Holzbalken für den Schiffsbau zuzurichten, und Pierre stellte sich nicht besonders geschickt dabei an. Cornelius, jünger und kräftiger, hatte zumindest schon einmal Holz gehackt und mit einem Hobel gearbeitet. Pierre hingegen verstand die meist in breitem örtlichem Dialekt erteilten Anweisungen besser, und gemeinsam schafften sie es, weitgehend unauffällig das ihnen aufgetragene Pensum zu erledigen.
Dennoch war es für Cornelius eine schwer zu ertragende Zeit. Dann und wann erinnerte er sich daran, dass er erst dreiundzwanzig Jahre alt war und sich sein Leben wegen einer Dummheit zerstört hatte. Zehn Jahre – eine Ewigkeit! Tagein, tagaus würde er Balken schleppen, Planken hobeln, grauen Brei essen, in der Kälte frieren und in der Hitze schwitzen, die Pöbeleien der anderen und die Schikanen der Aufseher ertragen müssen. Wieder zog er sich mehr und mehr in sich zurück, auf keine Bemerkung reagierte er. Sein Gesicht blieb unbewegt, seine Augen waren ausdruckslos. Er war zu einem dumpfen Gesellen geworden, dessen Geistesfunke erloschen schien.
Nur einmal durchbrach er seine Dumpfheit. Als Pierre, erschöpft von der schweren Arbeit, beinahe zusammengesunken wäre, schob er ihm abends die Hälfte seiner Essensration zu. Sein Kettenpartner wollte sich weigern, mehr als er zu essen, aber er murrte nur leise: »Iss! Ich will mich bei der Plackerei nicht auch noch mit einem halbtoten Esel belasten.«
Pierre schnaubte, es hätte fast ein Lachen sein können. Aber er aß, was ihm angeboten wurde, und überließ Cornelius dankbar die schwersten Arbeiten. Nach einigen Tagen ging es ihm besser. Und er beobachtete Cornelius noch aufmerksamer.
In einer kalten Nacht, eine Woche später, als sie in ihre Kleider und Decken gehüllt auf der Pritsche nebeneinanderlagen, hörte Cornelius dann Pierre leise wispern:
»Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris
Italiam fato profugus Laviniaque venit litora, multum ille et terris iactatus et alto...«
»… vi superum saevae memorem Iunonis ob iram, multa quoque et bello passus …« setzte Cornelius die Verse fort. Pierre drehte sich zu ihm um.
»Ich dachte es mir doch. Ich habe es fast bis zum Buch drei geschafft.«
»Großer Gott, und ich versuche gerade die ersten fünfhundert Zeilen zusammenzubekommen«, flüsterte Cornelius.
»Dann besingen wir gemeinsam den Kampf des Helden, der einst von Trojas Küsten floh und von Junos erbittertem Zorn durch Länder und Meere geschleudert wurde.«
Seit geraumer Zeit hatte Cornelius angefangen, Texte zu memorieren, die er während seiner Schulzeit auswendig lernen musste. Da er eine klassische Bildung erhalten hatte, war es nicht so überraschend, dass er, ähnlich wie Pierre, auf Vergils Aeneis verfallen war. Es passte irgendwie zu ihrer Situation. So arbeiteten sie
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