Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
hatte, um mit Elisabeth und ihr zu plaudern. Sie erinnerte sich, wie sie David und Nikolaus im Apfelbaum belauscht und ihn spät in der Nacht in seinem Offiziersquartier aufgesucht hatte, um ihm die Position der Preußen zu verraten. Als sie an den Tag dachte, da sie ihn an der Schulter verwundet aufgelesen hatte, kam neben dem Mitleid auch dieses seltsame Gefühl von damals zurück. Sie war sechzehn und hatte das erste Mal vergessen, dass sie kein Junge war. Sie hatte seine Einsamkeit gespürt und den Wunsch, ihn mit Zärtlichkeit zu trösten. Darum hatte sie ihm, wie jetzt, das Gesicht gestreichelt, als er benommen von Obstschnaps und Schmerzen in ihrem Zelt lag. Später, als Elisabeth gestorben war, übernahm er die Rolle des Trösters, nicht mit Zärtlichkeit, aber mit Verständnis und Hilfe. Vor sechs Jahren hatte sie ihn das letzte Mal gesehen, und sie fragte sich, was er in dieser Zeit alles erlebt hatte.
Sie betrachtete ihn wie so oft im matten Schein der Lampe. Er mochte jetzt um die vierzig sein, sein Haar war noch immer schwarz und kraus, aber an seinen Schläfen gab es vereinzelte silberne Fäden. Heinrich rasierte ihn jeden Morgen, aber in der Nacht lag ein dunkler Schatten um Kinn und Wangen. Wenn er ruhig schlief, waren wenige Falten zu sehen, und er wirkte genauso wie zu der Zeit, als sich ihre Wege getrennt hatten. Auch damals war er hager gewesen, aber sein Teint war sonnengebräunt und nicht so farblos, fast grau. Seine Augen hatten damals vor Lebensfreude gefunkelt. Wenn er sie jetzt einmal öffnete, schienen sie schwarz, nicht mehr braun, und blicklose Brunnen tiefster Qual.
Sie nahm seine Hand in die ihre, und als die frühe Januardämmerung in das Zimmer kroch, da versuchte sie, nicht nur leise zu ihm zu sprechen, sondern ihn energisch aus seiner Schattenwelt zurückzurufen.
»Mon Colonel, wachen Sie auf! Ich bin es, Toni. Erinnern Sie sich nicht mehr an Toni, den Trossbuben? Hören Sie mich, mon Colonel? Toni ist bei Ihnen. Werden Sie wach, mon Colonel! Sie haben David versprochen, lebend zu mir zu kommen. Halten Sie Ihr Wort, mon Colonel!«
Er bewegte seinen Kopf, und mühsam hoben sich die Lider.
»Toni?« Es war kaum ein Flüstern. Aber es war das erste Mal, dass er überhaupt sprach.
»Ja, Toni. Der Junge vom Marketenderwagen.«
»Toni?« Er blinzelte stärker.
»Immer noch derselbe.«
»Toni, der zur Stelle ist, wenn ich mich verirrt habe oder verletzt bin?«
»Es gab solche Gelegenheiten, ja, mon Colonel.«
»Du bist bei mir? Kein Traum?«
»Nein, ich bin kein Traum. Ich bin bei Ihnen, mon Colonel.«
»Gut.«
Sie strich ihm wieder zart über die Wange, und er schmiegte zufrieden den Kopf in ihre Hand.
Danach setzte tatsächlich die Genesung ein, und eine Woche später saß er schon, von vielen Kissen gestützt, in seinem Bett und unterhielt sich mit Cornelius.
»Es ist mir überaus peinlich, Ihre Gastfreundschaft so lange in Anspruch zu nehmen, Herr Waldegg. Sie hätten mich in ein Hospital bringen lassen müssen.«
»Das hätte nur bedeutet, das die beiden Damen dort ständig um Sie herum gewesen wären. So ist es bequemer für alle.«
»Es muss ein Ende haben. Doch ich muss Sie noch um einen Gefallen bitten.«
»Nur zu, General. Eine Uniform, ein schnelles Pferd, einen Säbel?«
»Nichts dergleichen. Eine ruhige Wohnung, ein paar Anweisungen an meine Bank, einen Diener. Ich möchte wieder zu Kräften kommen, aber dazu muss ich auch mein Leben wieder in die Hand nehmen.«
»Das wird zu regeln sein. Soll ich Ihnen bei den schriftlichen Angelegenheiten zur Hand gehen?«
»Ich habe dort schon einige Papiere liegen. Aber einen Botengang zu einer Bank müssten Sie für mich übernehmen.«
»Ich werde es mit unserem Bankier regeln, wenn Sie mir vertrauen wollen. Was die Wohnung anbelangt, General, so kann ich Ihnen sogar ein passendes Objekt anbieten. Wenn Ihnen auch ein kleines Haus genehm ist.«
»Es ist mir gleichgültig, Hauptsache, ich kann mich in der Umgebung ein wenig bewegen. Ach – und Geld spielt keine Rolle, ich bin ein – mhm – ziemlich vermögender Mann.«
»Ich weiß, Comte de Bessèges. Ein Gut in der Provence, einige Häuser in Marseille et cetera. David schrieb mir ausführlich. Das Landhäuschen, das ich letztes Jahr gekauft habe, liegt an einem Seitenarm des Rheins, recht ländlich, aber nicht weit von der Stadt entfernt. Ich wollte es herrichten lassen, als Sommerhaus für meine Familie, aber bewohnbar ist es. Sie können es beziehen,
Weitere Kostenlose Bücher