Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
gezeigt hatte. Es war risikoreich, und beide hatten sie Angst. Aber es gelang ihnen, unbemerkt von den Belagerern zu entkommen und sogar zwei Pferde zu stehlen. Am nächsten Tag aber waren sie gezwungen, einige Umwege zu machen und gerieten in die Nähe des kleinen Örtchens Olvenstedt, wo unglücklicherweise eine ganze Kompanie Franzosen lagerte. Dort war David dem Mädchen entkommen, das sie so mutig gefangen genommen hatte. Er erreichte noch an diesem Tag die Stellungen des Yorck’schen Kontingents, wurde sogar angehört, aber dann wandte sich das Schicksal gegen ihn. Am siebten November musste sich auch General Yorck in Ratkau geschlagen geben, und David geriet in Gefangenschaft. Immerhin, die Franzosen verhielten sich anständig. Wie alle übrigen Offiziere wurde er auf Ehrenwort entlassen und schlich sich, gedemütigt gleich den anderen Kameraden, nach Berlin zurück, wo inzwischen die französische Besetzung begonnen hatte. Er legte die Uniform ab und zog wieder in seine alte Wohnung ein.
Hier stand er nun und betrachtete sein Spiegelbild im Fenster, unschlüssig, wie er das Geschehene zu Papier bringen sollte. Denn nicht die Gefangennahme war es, die ihn bedrückte – das war ein Los, mit dem man im Krieg rechnen musste. Er machte es sich zum Vorwurf, dass er in Magdeburg die Beherrschung verloren und Major Cattgard niedergeschlagen hatte. Einen vorgesetzten Offizier zu schlagen, das war wirklich ehrlos. Schlimmer aber war, das man seinen Ausbruch aus der belagerten Stadt als Desertion auslegen konnte.
Was immer vom preußischen Militär übrig geblieben war, funktionierte – wegen der Tätlichkeiten gegenüber seinem Stiefvater sah er der unehrenhaften Entlassung entgegen. Auf Desertion aber stand Festungshaft, und, wenn man es sehr streng auslegte, die Todesstrafe. Selbst wenn es die aberwitzige Aussicht gäbe, Cattgard könnte nachsichtig Schweigen über diesen Vorfall bewahren – sein übelster Widersacher war Zeuge der Vorfälle in Magdeburg gewesen. Und der würde jede Möglichkeit nutzen, ihn bestraft zu sehen. Selbst die leise Hoffnung, Unteroffizier Adam Burk könne gefangen worden oder gefallen sein, hatte sich zerschlagen. Der Mann war ebenso in Berlin eingetroffen wie David selbst.
Diese Zukunftsaussichten seinem Vater zu schildern, an dessen Wohlwollen und Liebe ihm immer mehr als alles andere gelegen hatte, überforderten David beinahe. Er drückte die Stirn an das Fensterkreuz und schloss müde die Augen.
Die Tochter, die ein Junge war
Sieh in dem zarten Kind
Zwei liebliche Blumen vereinigt,
Jungfrau und Jüngling,
sie deckt beide die Knospe noch zu.
Die Geschlechter, Schiller
Toni hatte sich einen dicken Schal um den Hals gewickelt und verfolgte den weißen Hauch ihrer Atemluft, der sich in der Kühle des Aschermittwochs bildete. Sie hatte endgültig ihren Entschluss gefasst.
Das Zusammenleben mit den Stammels war vollends unerträglich geworden, als Marie herausgefunden hatte, dass Antonia nicht der Junge war, für den sie sich ausgab. Es konnte nicht ausbleiben, so eng, wie sie zusammenlebten. Marie wurde von giftigen Eifersuchtsanfällen gepackt und geiferte bei jeder Gelegenheit herum. Mitte Februar gestand Toni sich endlich ein, dass ihr Bleiben in dem Tabakladen nicht länger zu ertragen war. Wohl oder übel – sie musste sich der Aufgabe stellen, ihrer leiblichen Mutter gegenüberzutreten. Der Frau, die ausgerechnet den Mann geheiratet hatte, für den sie ein Schreiben mit sich führte, das sie schon lange hätte abliefern müssen.
Am frühen Nachmittag klopfte sie also an die Tür des Hauses am Domhof. Ein steifer Diener öffnete und fragte höflich nach ihrem Begehr.
»Ich habe eine Nachricht von Leutnant David von Hoven für den Herrn Waldegg.«
»Treten Sie ein, treten Sie ein! Ich sage dem Herren augenblicklich Bescheid.« So eifrig, wie der Mann sich benahm, schien diese Botschaft wirklich ein Entree zu sein. Nur wenige Augenblicke später trat ein hochgewachsener, leicht in den Schultern gebeugter Herr auf sie zu und reichte ihr mit einem Lächeln die Hand.
»Hermann Waldegg. Meinen Gruß, junger Mann. Sie sagen, Sie kommen mit einer Nachricht von meinem Sohn? Folgen Sie mir in die Bibliothek.«
»Ich habe einen Brief…« Toni wurde wieder von einem Hustenkrampf geschüttelt, und Waldegg füllte ein Glas mit Rotwein aus der Karaffe am Kamin.
»Trinken Sie langsam, junger Freund, das wird den schlimmsten Anfall mildern. Johann, lass einen Tee
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