Kreuzdame - Köln Krimi
wiederzuerlangen, hatte sich hämisch verzogen und mich an ihre nervöse Verwandte weitergereicht, die mir den Nacken verkrampfte und die Hände gegeneinanderpresste, bis die Knöchel weiß zu werden drohten. Es schien mir, als würden wir bis zum Ende aller Tage so sitzen bleiben, Anna mit dem Plätzchenrest in den Fingern, lächelnd der Musik lauschend, und ich sie betrachtend.
»Ich würde gern hin und wieder zu dir kommen«, sagte sie so plötzlich, dass ich zusammenzuckte.
»Ja, sicher. Klar kannst du kommen«, antwortete ich, wie um mich selbst aufzumuntern und dann noch: »Wann immer du möchtest.«
Sie stand auf, umarmte mich kurz, zog sich ihren Mantel an und ging zur Tür.
»Dann bis bald«, sagte sie und verließ das Haus.
Warum wollte sie wiederkommen? Wollte sie doch mit mir reden? Obwohl sie beim letzten Mal, als sie so erbärmlich niedergeschlagen gewesen war, so anlehnungsbedürftig und doch zu stolz, um sich mir anzuvertrauen, gesagt hatte, sie hätte alles in sich vergraben? Hatte sie nun vor, mich wieder als Freundin zu gewinnen? Würde sie mir womöglich erzählen, wo sie gewesen war während der Jahre, die Klaus mit Katharina verbracht hatte? Und wusste sie vielleicht auch, warum Katharina gegangen war?
Aber Anna rief nicht an und stand nicht vor meiner Tür, und nach einer Weile schien auch diese Freundschaft zu verblassen wie die zu Karin und Charlotte. Die Männer trafen sich zum Ärztestammtisch und schienen darüber hinaus kein Bedürfnis zu haben, unsere alte Clique zusammenzuhalten. Auch die Doppelkopf-Abende fanden nicht mehr statt. Vielleicht sollte ich mich auf die Familie besinnen, auf meine Kinder, auf Carolin vor allem, und meine Schwiegermutter? Doch dann, in der zweiten Adventswoche, stand Anna wieder vor unserer Tür: mit strahlenden Augen, pudrigem Teint, in edlen Duft und teure Garderobe gehüllt.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte sie auch diesmal, und ich bat sie auch diesmal mit einem freundlichen »Ja, natürlich« herein.
Das Klingeln an der Haustür hatte mich im Keller aufgeschreckt. Ich war die Treppe hinaufgelaufen, weggescheucht vom Aufräumen, dem ich mich stets zum Jahresende hin verpflichtet fühlte, damit das neue Jahr unbelastet begänne, unbelastet vom Vergangenen. Nun empfand ich mich in meinem alten Pullover, trotz der stattgefundenen Aufhübschung neben Anna schäbig, einfach gestrickt, bieder, ein Küchentischkind, eine, die in ihrer Jugend nicht gewusst hatte, wie man Schnecken aß oder Austern, die sich wenig gekümmert hatte um in und out, die sich wohlgefühlt hatte in der heimischen Zone, mit Schwester und Eltern, zuweilen noch mit Tanten und Onkeln, die die gleiche Herkunft hatten.
Und Anna? Sie kam von noch tiefer, von ganz unten, aus der Gosse, so hatte sie selbst gesagt. Wieso bekam Anna das so viel besser hin als ich? Woher kam die Sicherheit, wie schaffte sie es mühelos, selbst in Jeans, in Pullover und mit zurückgebundenen Haaren so auszusehen, dass die Leute glaubten, sie käme aus altem Adel oder wenigstens aus dem gehobenen Bürgertum? Warum war mir diese Täuschung nie gelungen? Wieso hatte ich nicht mehr aus mir gemacht? Hatte Martins Mutter womöglich recht, war ich wirklich das Durchschnittsgeschöpf, das sich nie verändern würde, egal zu welchem Friseur ich ging oder welchen Lippenstift ich auflegte?
Anna stand im Flur und wartete geduldig, bis ich ihr den Mantel abnahm und sie ins Wohnzimmer bat, wobei mir klar wurde, dass unsere Freundschaft von derart ungewohnten Höflichkeitsfloskeln begraben zu werden drohte.
Wir saßen unter dem Adventskranz, der wie immer über unserem Schiefertisch hing. Grüne Tannen, rote Kerzen, vier hochstrebende Bänder, Halt findend am weißen Deckenhaken, der jährlich elf Monate auf diese vier Wochen wartete und für unsere Kinder früher so etwas wie der immerwährende Hinweis auf Weihnachten gewesen war.
Ich hatte zwei Kerzen angezündet, und Anna blickte hoch zu den flackernden Dochten und lächelte wieder dieses versonnene Lächeln, das mir noch vom vorigen Mal in Erinnerung war. Sie schwieg, und ich wollte nichts sagen. Nach einer Weile räusperte sie sich, öffnete ihre Tasche und nahm ein Foto heraus, das sie mir reichte.
»Katharina«, rief ich. »Das Bild trug er bei sich, als er gefunden wurde. Der Kommissar hat es uns gezeigt.«
Anna lächelte noch immer. »Ja«, sagte sie.
»Und auf der Rückseite steht: ›In Liebe –‹«
»Ich weiß.«
Was wusste sie noch? Wie war sie
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