Kreuzfeuer
lebende Beweis dafür, dass sogar in einer rigiden theokratischen Diktatur ein einfacher Junge vom Lande bis ganz nach oben aufsteigen kann. Es bedurfte lediglich gewisser Talente. In Khoreas Fall lagen diese Talente in einer absoluten Ergebenheit an, die Wahrheit des Talamein, überragender Körperbeherrschung, dem Mangel an Sorge um die eigene Sicherheit und völliger Skrupellosigkeit.
Khorea hatte seine Qualitäten zum ersten Mal als Unteroffizier erwiesen, als ein Patrouillenschiff der Jann ein kleines Raumschiff aufbrachte. Vielleicht handelte es sich um einen vom Kurs abgekommenen Händler, wahrscheinlich jedoch um einen Schmuggler.
Khoreas Kommandant hätte am liebsten sämtliche Besatzungsmitglieder des Raumschiffs töten lassen, schon allein, um ein Exempel zu statuieren. Doch bevor er die entsprechenden Befehle geben konnte, hatte Khoreas Enter truppe die Besatzung bereits niedergemetzelt und dann, um dem Vorwurf der Bereicherung zuvorzukommen, das Raumschiff kurzerhand gesprengt.
Derartiger Fanatismus verdiente natürlich belohnt zu werden – eine rasche Versetzung durch Khoreas wankelmütigen Vorgesetzten auf einen Außenposten dicht an der »Grenze« von Ingilds Hälfte des Clusters; ein Transfer, bei dem sich die verantwortlichen Stellen wohl gedacht hatten, dass Khorea, wenn er sich schon zur Legende machen wollte, das am besten im Territorium eines anderen tat – am allerbesten zu einer posthumen Legende.
Doch das Glück sucht sich meist die Verrückten aus, und trotz gegenteiliger Bemühungen der Feinde der Jann überlebte Khorea, obwohl er schon bald in einem Körper herumlief, der aussah, als hätte eine unbegabte Näherin einige Monate lang daran den Kreuzstich geübt.
Auf dem Weg nach oben hatte Khorea eine Gruppe junger Jann-Offiziere um sich geschart, die entweder ebenso fanatisch oder ebenso ehrgeizig wie er selbst waren.
Schließlich wurde Khorea Adjutant des letzten Generals der Jann, der ihm eines Abends gestand, dass er gegen ein gewisses Verlangen hinsichtlich eines seiner Meldeburschen ankämpfen musste. Bevor er zu Ende gesprochen hatte, war er auch schon tot. Khoreas Paradesäbel steckte tief in seiner Brust.
Dem Kriegsgericht sah Khorea mit Gleichmut entgegen.
Die Vorsitzenden Offiziere saßen in der Zwickmühle.
Entweder exekutierten sie Khorea, was ihn in den Augen seiner Getreuen unweigerlich zum Märtyrer machen würde, oder sie segneten ihn und …
Außerdem gab es keinen besseren Mann, der zur Spitze der Jannisar aufrücken konnte.
Die Antwort war unvermeidlich.
Als Khorea den Gerichtsaal betrat, zeigte nicht nur der Griff seines Säbels auf ihn – die Spitze hätte Verurteilung bedeutet –, sondern daneben gleich die Schulterstücke eines Jann-Generals.
Die Stimme des Jann-Priesters dröhnte weiter. Er näherte sich dem Ende der traditionellen Lesung aus dem Buch der Toten, der Liste der Gefallenen von Sammera. Die Kadetten standen stramm. Bis auf die Stimme des Priesters herrschte absolutes Schweigen im Saal. Schließlich kam der Priester zum Ende und klappte das alte, in schwarzes Leder gebundene Buch zu.
General Khorea trat mit einem goldenen Kelch in der Hand nach vorne. Er hob ihn als Trinkgruß hoch über seinen Kopf. Wie ein Mann drehten sich die Kadetten zu ihren Tischen um und erhoben identische Kelche.
»Auf die Lektion von Sammera«, brüllte der General.
»Auf das Töten«, brüllten die Kadetten zurück.
Die Flüssigkeit in den Kelchen verwandelte sich in Flammen und brannte in tausendfachen Feuerzungen. Khorea und die Kadetten tranken den brennenden Alkohol gleichzeitig aus.
Sten legte den Kopf in den Nacken und blickte die steile Eiswand hinauf, die sich vor ihm erhob. Es war beinahe unmöglich, sie zu erklettern, und deshalb hatte Sten sie als die Route auserkoren, über die man die Jann am besten erwischen würde.
Sein Blick fiel auf Alex, und er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: »Leichter wird es nicht.«
Alex streckte eine Hand aus, Sten stieg auf die Handfläche, und der Schwerweltler hob ihn einfach hoch. Sten tastete nach dem ersten Halt für die Hand, fand einen Spalt im Eis, rammte eine Faust hinein und begann zu klettern.
›Am wichtigsten überhaupt ist der Rhythmus‹, sagte er sich. Langsam aber stetig musste der Aufstieg vor sich gehen, eine gleichmäßige Bewegung nach oben. Nach all den Jahrhunderten technischen Fortschritts hatte die Wissenschaft das Bergsteigen nicht leichter gemacht. Noch immer war es
Weitere Kostenlose Bücher