Kreuzigers Tod
Waldluft. Obendrein war da kein Seitenscheitel zu sehen. Das Haar fiel locker und lässig. Und doch: dieses Gesicht und diese Statur, das konnte nur der Engel sein. Andererseits: der Mund, der sonst immer offen stand und einen Blick auf die unvorteilhaften Zähne freigab, er war fest geschlossen und bildete einen regelrecht coolen Ausdruck, den ich so am Engel nie gesehen hatte, ja dessen ich sein Gesicht insgesamt für unfähig gehalten hatte. Dieses Gesicht dämmerte nicht mehr einfach nur blöde und bar eines Gedankens an mögliche Betrachter vor sich hin, wie ich es von ihm gewohnt war, sondern es schien die Möglichkeit des Betrachtetwerdens klug einzukalkulieren, ja es schien beeindrucken zu wollen. Und es beeindruckte bis zu einem gewissen Grad tatsächlich, eigentlich war der Engel - solange der Mund zu war zumindest - ein gut aussehender Bursche, dachte ich,wenn es überhaupt der Engel war, der da stand, denn er erwiderte keinen meiner Blicke.
»Hast - hast du mich gerettet?«, fragte ich leise zu ihm hinüber. Er verformte den Mund in zustimmender Weise: Nicht der Rede wert, sollte das heißen. Ansonsten schwieg er, und auch die anderen blieben ruhig.
Dann erhob Gschnitzer die Stimme: »Sie hätten es verdient, unter die Axt zu kommen, Sie Trottel!«
Ich schwieg und senkte den Blick.
»Was ist das für ein Polizist, der nicht in der Lage ist, einen einzelnen Angreifer auszuschalten!«, schrie er. »Sie Blindgänger! Warum sind Sie unbewaffnet?«
»Ich bin es nicht gewohnt, bewaffnet zu sein.«
Gschnitzer schüttelte den Kopf. »Ich möchte hier klarstellen, dass es an dieser Stelle nicht im mindesten um Leib oder Leben Ihrer Person geht. Wenn Sie selbst kein Interesse daran haben, sich zu schützen, ist das Ihr Problem und relevant für mich nur insofern, als es auf einen geschwächten Lebenswillen hinweist, der Sie als Verantwortungsträger im Sicherheitsapparat disqualifiziert. Aber Sie haben sich verdammt noch einmal zu bewaffnen, um sich in die Lage zu bringen, die Erfüllung Ihrer Pflicht, die in der Klärung des Mordfalls besteht, gegen alle möglichen Widerstände durchzusetzen. Indem Sie auf die Bewaffnung verzichten, verzichten Sie von vornherein auf die fruchtbare Anwendung jener Gewalt, mit der man Sie vertrauensvoll belehnt hat, damit Sie dem Staat dienen können, verstehen Sie mich?«
»Ja«, sagte ich nur.
»Was sind Sie nur für ein Blindgänger«, sagte er weniger laut, dafür mit einer sehr persönlichen Eindringlichkeit. Menschen wie Gschnitzer verfügen über be-stimmte sonore Vibrationen in der Stimme, einen strammen Basston, der den Zuhörer auf sonderbare Weise gefangen nimmt. Er schien recht zu haben. Ich sagte nichts und lauschte gespannt, wie er seine Rede fortsetzen würde.
»Wie recht ich doch hatte, den Engel von Ihnen abzuziehen und direkt meinem Befehl zu unterstellen, um jemanden zu haben, der hier vor Ort Ihre Machenschaften überwacht und notfalls korrigiert.«
Ich schaute langsam auf und suchte Engels Blick, aber der Engel sah voller Ehrfurcht zu Gschnitzer und nickte langsam mit dem Kopf. Das war es also! Der Engel diente nicht mehr mir, sondern war jetzt Gschnitzer unterstellt, wodurch er in der Hierarchie gewaltig aufgerückt und zweifellos höher gestellt war als ich selbst. Das war es also, was unser Verhältnis so grundlegend umgekrempelt hatte! Gschnitzer lächelte nachsichtig.
»Sie scheinen aus allen Wolken zu fallen, mein Lieber, und es wundert mich nicht, dass Sie von den Vorgängen im Umkreis Ihrer eigenen Nasenspitze nichts bemerkt haben. Das spricht nicht für Ihren Scharfsinn und Ihre Geistesgegenwart. Sie sollten sich bedanken, denn hätte ich mich nicht aus der Ferne Ihres Falles angenommen und den Engel zu meinem Assistenten gemacht, dieser Mann hier hätte Sie erschlagen. Sie wären jetzt tot.«
Ich konnte noch gar nicht recht fassen, was er mir da sagte: dass Engel gar nicht mein Assistent, sondern sein Assistent war, der mich beaufsichtigt hatte! Die Leiche zu meinen Füßen kam mir wieder ins Bewusstsein und ich bückte mich, um dem Mann die Maske abzunehmen.
»Sehr gut, Herr Kollege. Schauen wir einmal nach,wer es gewesen ist, der da versucht hat, uns einen Kopf kürzer zu machen«, kommentierte Gschnitzer. Und Engel lachte genau wie ein Untergebener lacht, wenn ein Vorgesetzter einen Witz auf Kosten eines anderen Untergebenen macht: zustimmend und doch nicht zu laut, exakt dosiert. Ich nahm dem Mann die Mütze ab und es kam kein anderer
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