Kreuzstich Bienenstich Herzstich
Susanne vor.
»Hinsetzen? Beruhigen?«, brüllte Irmgard. »Wie soll das gehen, wenn Karina nackt an das Treppengeländer von St. Michael gekettet ist?«
Barbie läuft Amok
»Für uns muss kein Tier leiden, wir lassen Pelze bleiben!«, skandierten die fünf Nackedeis fröhlich.
Es war kalt, es regnete, aber das hatte Karina und ihre vier männlichen Kommilitonen nicht davon abgehalten, ein Zeichen zu setzen. Andere ketteten sich an Bahngleise, um gegen Castor-Transporte zu protestieren, Karina, Yannick, Mike, Kevin und Sören hatten sich ausgezogen und an die eisernen Treppenpfosten auf der großen Freitreppe der Kirche St. Michael gekettet, um der Menschheit – oder doch wenigstens den Bürgerinnen und Bürgern von Hall und insbesondere den sonntäglichen Kirchgängern – in Erinnerung zu rufen, dass es so etwas wie eine Verantwortung gegenüber den Mitgeschöpfen gab und man diese nicht allein zu schnöden Verschönerungszweckender eigenen Person abschlachten durfte. Seit der Klimakatastrophe gab es keine extremkalten Winter mehr, folglich auch keine Notwendigkeit für Echthaaroberbekleidung.
Sollten die Frauen doch aufhören, sich überall zu epilieren, dann hätten sie genug eigenes Fell, um warm zu bleiben. Ha!
»Nie wieder Pelz!«, riefen ein paar junge Leute – offenbar ebenfalls Studenten der FH, die sich aber wegen der drohenden Erkältungsgefahr oder aus Prüderie nicht im Adamskostüm aufzutreten trauten – aus der Menschenmenge, die sich auf dem Marktplatz versammelt hatte, um das Spektakel zu beobachten. Oder um Handyfotos von den nackten Twens zu schießen.
»He!«, brummte Seifferheld und riss den Arm eines schmierigen Bierbauchträgers nach unten, der mit seinem Handy gerade eindeutig auf Karina gezielt hatte.
»Was soll denn das?«, empörte sich der Bierbauch. »Ich bin Künstler. Mammograph. Ich sammle rein beruflich Brustaufnahmen.«
»Ach so?« Seifferheld setzte seinen Böser-Cop-Blick auf. »Die Kleine ist aber noch minderjährig.«
Schnell wuselte der Bierbauch in Richtung Marktstraße davon.
Mehrere eingetroffene Streifenbeamte holten Decken aus ihren Polizeifahrzeugen, gingen zur Treppe und legten sie um die nackten jungen Leute.
»Für uns muss kein Tier leiden, wir lassen Pelze bleiben!«, rief Karina, die schon ganz blau angelaufen war, was aber zugegebenermaßen farblich gut zu ihren lilafarbenen Haaren passte.
»Karina!« Seifferheld ging zum Fuß der Treppe. »Du machst dich sofort los und kommst nach Hause!«
Das hatte schon bei Susanne vor zwanzig Jahren nicht funktioniert und es funktionierte auch jetzt nicht. Wobei Susanne sich damals nicht unbekleideten Bondage-Spielen in der Öffentlichkeit hingegeben, sondern bei einem Sit-in Arm in Arm mit ungepflegten, langhaarigen Norwegerpulli-Rebellen die Freilassung irgendwelcher politischen Gefangenen gefordert hatte.
Karina hob das Kinn etwas höher. »Selbst wenn ich wollte, ich kann nicht, Onkel Siggi. Wir haben die Schlüssel vorher weggeworfen und Leim in die Schlösser geträufelt. Uns kriegt man hier nur mit schwerem Gerät weg!«
»Siggi!«, zischte Irmi plötzlich von hinten links. »Mach, dass du wegkommst. Wir dürfen hier nicht gesehen werden.« Irmi fürchtete um ihren guten Ruf unter den Honoratiorinnen. Und bei Pfarrer Hölderlein.
»Wir tun einfach so, als kennen wir sie nicht«, erklärte Susanne, die um ihre Beförderungschancen bangte. Man sah ihr nicht an, dass sie unter ihrem knöchellangen Kamelhaarmantel immer noch ihren Flauschpyjama trug.
»Seid ihr noch bei Trost!« Seifferheld war ehrlich wütend. »Wir sind eine Familie! Wir halten zusammen. Wir kümmern uns umeinander!«
Die Familie schrumpfte abrupt auf einen Onkel und seine Nichte, als die Feuerwehr mit schwerem Gerät und zeitgleich Fotograf Nneka vom
Haller Tagblatt
eintrafen.
»Dass du mir ja einen falschen Namen nennst, sonst stelle ich deinen Koffer jetzt sofort vor die Tür«, hatte Susanne Karina noch zugerufen.
Als ob die heldenhafte Obdachlosigkeit im Angesicht kühner Überzeugungskonsequenz ein Druckmittel wäre.
»Für uns muss kein Tier leiden, wir lassen Pelze bleiben!«
Während die Feuerwehr die Ketten des jungen Mannes namens Yannick durchtrennte und Nneka ein besonders neckisches Foto von Karina schoss, das es nie und nimmer ins
Haller Tagblatt,
aber womöglich auf seine private Homepage schaffen würde, trat eine Frau neben Seifferheld.
»Gehören Sie zu den Protestierenden?«, erkundigte sie sich.
Seifferheld
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