Kreuzstich Bienenstich Herzstich
Linken den Tisch aufzurichten, während sie mit der Rechten das Tablett balancierte. Allerdings hielt sie das Tablett in einer gewagten Schräglage, was der Tee nutzte, um überzuschwappen. Sie stellte das nur noch halbvolle Teeglas auf den Tisch. Das würde einen Rand geben.
»Milch oder Zitrone?«, hörte man Frau Rettenberg mit etwas schwererer Zunge aus der Raumesmitte fragen.
»Nur Milch, danke«, sagte Seifferheld.
Gabi blickte unschlüssig.
»Soll ich jetzt Milch holen?«, fragte sie.
»Nein, schon gut, ich trinke den Tee gern auch schwarz.« Seifferheld lächelte zu ihr auf.
»Wie blöd kann man sein?«, stichelte Frau Rettenberg.
Gabi zog einen Schmollmund – nicht süß wie bei der jungen Brigitte Bardot, sondern einfach nur schmollend – und verschwand.
Seifferheld nahm einen Schluck und musste an sichhalten. Von wegen Schwarztee. Es war irgendeine Kräuterbrühe. Er hätte die Flüssigkeit gern in weitem Bogen ausgespuckt, aber das verbot sich natürlich. Knigge würde sonst in seinem Grab rotieren. Möglichst unauffällig setzte er das Glas an die Lippen und ließ die Brühe aus seinem Mund sickern.
Frau Rettenberg schien nichts zu bemerken.
»Schwierig, gutes Personal zu finden«, scherzte Seifferheld, um die Situation aufzuheitern.
»Das ist meine Stieftochter«, korrigierte Frau Rettenberg mit eisklirrender Stimme.
Also doch.
So viel zur Aufheiterung.
Derartiges wäre Seifferheld früher nicht passiert. Früher hätte er im Vorfeld ausgiebig die Familienverhältnisse recherchiert, hätte sich mit den Betroffenen vertraut gemacht. Aber zwei Jahre Vorruhestand hatten ihn lax werden lassen. Er hatte einfach aus einer spontanen Idee heraus angerufen und war losgezogen.
Er konnte auch nicht mehr guter Cop, böser Cop spielen. Vielleicht hätte er Onis mitnehmen sollen? Onis war ein Frauenversteher. Frau Rettenberg hätte den Hund gekrault und wäre von ganz allein ins Reden gekommen.
Hätte, wäre, wenn. Konjunktivgedanken waren so sinnlos wie Diäten oder Nasenhaarscheren.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Mann«, bat Seifferheld.
Frau Rettenberg zuckte fast unmerklich mit der Oberlippe. Aber nur fast. Dem scharfen Auge von Seifferheld entging nichts. Seinen Ohren jedoch schon. Sie nuschelte etwas, das er nicht verstand.
»Wie bitte?«, rief er.
»Ich habe meinen Mann das letzte Mal am Abend des dreißigsten August gesehen. Ein Sonntag. Er sagte, er wolle nur noch einmal kurz ins Büro, um seinen Montagmorgentermin vorzubereiten. Gegen Mitternacht bin ich eingeschlafen. Als mich am nächsten Morgen um halb zehn seine Sekretärin weckte und sich erkundigte, wo mein Mann denn bliebe, der Besuch sei schon da, informierte ich umgehend die Polizei, denn ein solches Verhalten sah ihm nicht ähnlich. Seitdem lebe ich zwischen Hoffen und Bangen.«
Sie kippte den Rest ihres zweiten Glases auf ex. Dafür, dass sie nunmehr einen Liter Gin Tonic intus hatte, stand sie noch bemerkenswert gerade im Raum.
Diesmal hatte Seifferheld alles verstanden, was aber im Grunde nicht nötig gewesen wäre, denn er hatte den exakt gleichen Text in der Polizeiakte bereits gelesen. Kein Mensch wiederholte seine Aussage Wort für Wort gleich. Außer, sie wäre einstudiert.
Frau Rettenberg, die beim Reden kleine Kreise durch den Raum gezogen hatte, machte sich erneut auf den Weg zu der Silberkugel mit der Alkoholfüllung, die Seifferheld zunehmend an eine riesige Weinbrandpraline erinnerte.
Während der üblichen Schwapp- und Blubbergeräusche ließ sich Seifferheld vom Sessel auf den Boden rutschen, von wo aus ihm das Aufstehen – dank seines Physiotherapeuten Olaf – mühelos gelang, indem er sich erst auf alle viere begab und sich dann aufrichtete.
Seifferheld pirschte sich zur Silberkugel vor.
»Das muss alles sehr schlimm für Sie sein, Frau Rettenberg«, sagte er mitfühlend.
»Unsere Ehe war nicht so besonders«, entgegnete sie.Die Vokale dehnten sich inzwischen schon auf doppelte Länge.
»Ich meine ja auch die finanzielle Situation.«
Ihre Augen wurden groß.
Seifferheld zeigte auf den Beistelltisch. »Ich habe den Aufkleber gesehen. Ist alles gepfändet?«
Frau Rettenberg hickste. Eine Haarlocke löste sich aus ihrer Frisur. Sie holte mit der aufgeschraubten Gin-Flasche weit aus und taufte auf diese Weise diverse Möbelstücke. Eames, Le Corbusier, Häberlin. »Alles. Hicks. Alles. Weg. Wir sind pleite. Darauf einen Dujardin.«
Sie kippte ihren dritten Gin Tonic. Der vermutlich ihr sechster oder
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