Kreuzstich Bienenstich Herzstich
diesem Haus lässt schon länger zu wünschen übrig«, sagte die Stimme und kam auf ihn zu.
Seifferheld hatte die gepflegte, junge Frau, die ihn eingelassen hatte, eigentlich für die Tochter des Hauses gehalten. Aber offenbar trug sie nur die abgelegte Kleidung der Herrschaft auf – oder sie verdiente ausnehmend gut.
Die Stimme gehörte zu einer Frau mittleren Alters, was Seifferheld erkannte, als sie sich ihm bis auf hundert Meter genähert hatte. Dann blieb sie an einem kugelförmigen Objekt auf Rädern stehen, das sie gleich darauf öffnete. Man hörte Blubbergeräusche. Hinter der geöffneten Kugel meinte Seifferheld eine blaue Flasche Bombay Sapphire und eine transparente Flasche Schweppes Tonic auszumachen.
Die Frau sah seinen Blick. Und interpretierte ihn trotzseiner Ausdruckslosigkeit richtig. Hochprozentiges am frühen Vormittag?
»Nur ein kleiner Underberg-Magenbitterlikör. Zwecks besserer Verdauung«, sagte sie, hielt aber ein Halbliterglas mit durchscheinender Flüssigkeit in der Hand, als sie hinter der Kugelbar hervortrat. Die Frau war extrem mager, doch ihr finsterer Blick verkündete: Ich frühstücke jeden Morgen öliges Rührei mit fetten Würstchen und einem Happen Eisbein mit Sahnesoße und brauche deswegen eine Verdauungsanregung. Sonst noch Fragen?
»Sie wollten mich wegen des Verschwindens meines Mannes sprechen?« Es klang irgendwie defensiv.
»Ja, und ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie mir ein paar Minuten Ihrer Zeit schenken. Wie ich schon am Telefon sagte, bin ich nicht wirklich in offizieller Funktion unterwegs.« Das hatte Seifferheld zwar tatsächlich gesagt, aber psychologisch geschult, wie er war, hatte er viel öfter die Worte Kommissar und Mordkommission in das Telefonat eingeflochten.
Frau Rettenberg nickte. »Ich tue alles, was die Chancen erhöht, meinen Mann wiederzubekommen. Wiewohl ich spüre, dass er nicht mehr am Leben ist.«
Sie setzte ihre Durchquerung des riesigen Wohnzimmers fort und kam auf Seifferheld zu. Nach weiteren gefühlten fünfzig Metern hatte sie ihr Glas bereits geleert.
Von nahem sah man, wie attraktiv sie noch war. Porzellanweiße Haut unter orangerot gefärbten Haaren – es erinnerte Seifferheld an das Porträt von Vivienne Westwood, das in Karinas Zimmer hing, weil sie eines Tages selbst mediale Modeschöpferin werden wollte. Frau Rettenberg trug einen Hosenanzug ähnlich dem ihrer Hausangestellten,allerdings in Schwarz. Kein Schmuck, kein Make-up. Eine Frau in Trauer.
Sie kam weiter auf ihn zu. Noch fünfundzwanzig Meter, noch zwanzig Meter, noch fünfzehn Meter. Seifferheld hob eine Augenbraue. Wollte sie ihn rammen? Noch zehn Meter, noch fünf …
Dann setzte sich Frau Rettenberg doch tatsächlich auf die Armlehne des Ledersessels und beugte sich so tief über ihn, dass ihr schwarzes Jackett aufklappte und er ein lachsfarbenes Spitzenbustier erkennen konnte. Ein Schwall Eau de Gin hüllte ihn ein.
»Welches Interesse haben Sie an meinem Mann?«, raunte sie ihm ins Ohr.
»Äh …«, fing er an.
»Was immer ich für Sie tun kann, werde ich gern tun«, wisperte sie und krallte fünf blutrot lackierte Fingernägel in seinen rechten Oberschenkel.
Es war Seifferheld unverständlich, was in letzter Zeit mit den Frauen los war. Lag es an seiner Ernährung? Verströmte er libido-anheizende Pheromone, weil er als Rentner mehr Gemüse aß?
Die Rettung erfolgte in Form eines Hüstelns.
Gabi trat mit einem Tablett ein, auf dem es fröhlich dampfte. »Der Tee«, sagte sie nur.
Frau Rettenberg entfernte jeden Finger einzeln aus Seifferhelds Hosenbein und stand auf. »Der Tee kommt hier hin.« Sie zeigte auf einen Beistelltisch mit Intarsienarbeit, dann machte sie sich wieder auf den Weg zur alkoholgefüllten Kugel.
Gabi eilte herbei, was aufgrund der Ausmaße des Raumes dauerte. Als sie endlich so richtig in Schwung kam,war sie allerdings auch schon am Ziel, konnte jedoch, wie ein Ozeandampfer in voller Fahrt, nicht einfach anhalten.
Sie stieß den Beistelltisch mit dem Knie um.
»Ungeschickte Person!«, zischte Frau Rettenberg, die sich ein zweites Halbliterglas mit Gin Tonic eingeschenkt hatte.
Seifferheld wollte sich erheben, um Gabi beim Aufrichten des Tisches zu helfen, doch es war ihm unmöglich, ohne Hilfe den Tiefen des Ledersessels zu entsteigen. Dafür sah er aus seiner tiefer gelegten Position heraus den Zettel, der unter der Tischplatte des Beistelltisches klebte.
Seifferheld sagte nichts.
Gabi brachte es fertig, mit der
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