Kreuzzug
vergangenen dreißig Jahre nicht mehr eine halbe Stunde, sondern nur mehr zehn Minuten. Die Touristen sahen immer weniger Sinn darin, auf dem Gipfel zu übernachten, wenn doch das eigene Auto unten auf dem Eibsee-Parkplatz wartete. Ein hochalpiner Raum, den noch einhundert Jahre zuvor nur vereinzelt Menschen unter Lebensgefahr betreten hatten, verkam zum touristischen Quick-Stopp. Rauf, Gipfelfoto, Kaffee, Zigarette, runter, nächstes Fotomotiv. Das war die Art, wie man ab den modernen sechziger Jahren ein Gipfelerlebnis abhakte.
Auch die Skifahrer, die sich zwischen Oktober und Mai auf dem schneesicheren Gletscher des Platts vergnügten, schraubten ihre Ansprüche nach oben. Eine Versorgungsstation, die nur über eine kleine Gondel zu erreichen war, genügte dem ständig ausgebauten Skiliftbetrieb nicht mehr. Mit dem SonnAlpin wurde ein Selbstbedienungsrestaurant für die Sportlerschnellabfütterung mit Germknödeln und Weißbier direkt auf das Platt gestellt. Nun musste keiner mehr ins Hotel Schneefernerhaus, das zweihundert Meter oberhalb des Frittierparadieses im Felsen hing.
Praktischerweise baute man 1988 auch der alten Zahnradbahn einen neuen Tunnel und dazu einen neuen Bahnhof. Ab da kehrten nur noch Romantiker und Hochzeiter im Schneefernerhaus ein. Doch der Standard entsprach längst nicht mehr den Gepflogenheiten des Publikums. Vier Jahre später brauchte endgültig niemand mehr das höchstgelegene Hotel Deutschlands. Die eine Hälfte des Gebäudes wurde komplett geschliffen, denn die langen Flure mit den Zimmern – jedes mit Blick auf den Gletscher – wurden nicht mehr benötigt. Nur die massiven Betonfundamente, die in den Dreißigern in den Fels armiert worden waren, hielten ähnlich ihren weit entfernten Verwandten an der französischen Atlantikküste sämtlichen Abrissbemühungen stand. Der Rest des alten Gebäudes wurde als Forschungsstation neu aufgebaut.
Seitdem maßen hier etliche Institute natürliche Radioaktivität, Luftverschmutzung, Pollenflug und Niederschläge, die sich in 2650 Meter Höhe ergaben. Die seltenen externen Besucher, meist Asthmatiker-Gruppen, die für Versuche in reiner Luft hochgeschafft wurden, mussten ein waches Auge haben, um Reste des Hotels in den hochnüchternen Zweckfluren, von denen die Laborräume abgingen, zu entdecken: Hier trug eine alte Flügeltür geschwungene Türgriffe aus Messing, dort waren ein paar Quadratmeter Solnhofener Fußboden verlegt, und versteckt in einer Nische befand sich der alte Essensaufzug, der die Feinkost aus dem Küchenkeller in die Speisesäle gebracht hatte. Aber sonst überall bewegungsmeldergetaktetes Neonlicht und rationale Zweckmöbel.
Von der vergangenen Pracht eines Luxushotels war auch nichts in dem karg möblierten Zimmer zu spüren, in das Verteidigungsminister Philipp von Brunnstein und seine Frau Carolin von Markus Denninger gebracht wurden. Natürlich gab es in der Forschungsstation Schneefernerhaus für die übernachtenden Wissenschaftler einige kleine Kemenaten. Doch die standen fast immer leer, denn die meisten Forscher forschten lieber zu Hause an ihren Universitäten, wohin die hier oben gewonnenen Messdaten zu jeder Tag- und Nachtzeit per SMS und Internet übertragen werden konnten. Um die Weihnachtszeit war niemand außer dem Hausverwalter hier oben und der auch nur tagsüber; er verließ mit der letzten Bahn Deutschlands höchstgelegenes Laboratorium in Richtung Tal.
»Das ist bitte schön nicht Ihr Ernst!« Minister von Brunnstein baute sich vor seinem Untergebenen Denninger auf. »Das können Sie meiner Frau nicht zumuten!« Er wies auf die beiden Betten, die rechts und links an den Seitenwänden des Zimmers standen. Sie waren aus Fichtenholzfurnier, und auf den Matratzen lagen zerwühlte Kissen und Decken in gelber Seersucker-Bettwäsche.
Denninger schwieg.
»Lass es gut sein, Schatz«, beschwichtigte Carolin von Brunnstein. »Wir müssen froh und dankbar sein, dass wir nicht in diesem Hubschrauber gesessen sind. Da mache ich mir keine Sorgen, wie ich die Nacht über schlafe. Sorgen mache ich mir, wie unser Land diesen Anschlag übersteht.«
Philipp von Brunnstein wandte sich seiner Gattin zu, nahm ihr Kinn zärtlich zwischen seinen Daumen und den abgebogenen Zeigefinger und sagte: »Meine Frau. Ein altes Kriegergeschlecht. So ist’s recht. Nicht das Nachtlager entscheidet, sondern die Entschlossenheit zum Kampfe!«
Denninger blickte betreten zur Seite. Dann räusperte er sich verhalten.
»Ach ja,
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