Krieg der Seelen: Roman (German Edition)
Essen, die Gerüchte von Räubern in der Wüste oder auf dem Plateau, über die Schwächen, Eifersüchteleien, Freundschaften, Feindschaften und Vernarrtheiten der anderen und den allgemeinen Klatsch von zweihundert gleichgeschlechtlichen Personen, die eng beieinander lebten, in einer strengen, wenn auch nicht punitiven Hierarchie.
Die anderen Frauen starrten Chay ungläubig an, wenn sie ihnen zu erzählen versuchte, was mit ihr geschehen war. Sie hielten sie für verrückt. Chays Kolleginnen schienen kein anderes Leben gehabt zu haben als dies, mit all den Beschränkungen in Hinsicht auf Technik und den damit zusammenhängenden Dingen. Sie waren in fernen Städten oder in Dorfgemeinschaften aufgewachsen, hatten irgendein Ungemach erlitten und waren aus ihren Herdengruppen verstoßen, gerettet und hierhergebracht worden. Soweit Chay das feststellen konnte, glaubten sie wirklich an den Gott beziehungsweise die Göttin, die man an diesem Ort verehrte. Zumindest stellte diese Gottheit nur ein Leben nach dem Tod in Aussicht, für jene, die es verdienten. Der Himmel erwartete die Frommen, während jene, die es an Frommheit mangeln ließen, ins ewige Nichts eingingen, anstatt immerwährende Qualen befürchten zu müssen.
Manchmal fragte sie sich, wie lange dies im Realen dauerte. Sie kannte sich ein wenig mit der Technik und den zeitlichen Unterschieden aus. Ein Jahr im Realen konnte in der virtuellen Welt auf eine Minute komprimiert werden. Es war das Gegenteil von Bewegungen mit annähernd Lichtgeschwindigkeit. Man verbringe ein halbes Leben und kehre als veränderte, völlig andere Person zurück, um festzustellen, dass nur eine Stunde vergangen war und niemand einen vermisst hatte. Lief dieses ruhige, schmerzfreie Leben mit einer solchen Geschwindigkeit? Oder war es auch in Echtzeit langsamer?
Es konnte auch sein, dass sie in dieser virtuellen Existenz ultralangsam lebte und dass das, was sich hier wie wenige Jahre anfühlte, im Realen ein Jahrtausend war. Vielleicht erwartete sie bei ihrer Rückkehr eine völlig andere Welt, in der alle Leute, die sie kannte, längst tot waren, so lange tot, dass es selbst im durchschnittlichen, völlig schmerzfreien Jenseits keine Spuren mehr von ihnen gab.
Wenn sie am Rand der Klippe stand, fragte sich Chay manchmal, was geschehen würde, wenn sie sprang. Kehrte sie dann hierher zurück, in die Hölle? Oder empfing sie dann das Nichts? » Wie furchtlos du bist!«, sagten die anderen, wenn sie sahen, wie sie dort stand, so nah am tiefen Abgrund.
Aber sie war nicht so furchtlos, dass sie sprang, um Antwort auf ihre Fragen zu bekommen.
Nach einigen Jahren übernahm sie zusätzliche Verantwortung im Manuskriptzimmer und beaufsichtigte und prüfte die Arbeit der anderen. In der Kapelle leitete sie oft den Chor. Inzwischen war die Oberin des Refugiums eine hutzelige Alte mit schwachen Hinterbeinen geworden, und sie brauchte einen Wagen für die Hinterhand und Hilfe bei der spiralförmigen Rampe, die zu den höheren Stockwerken des Refugiums emporführte. Sie vertraute Chay Verwaltungsaufgaben an und zeigte ihr, wie man das Refugium leitete. Chay erhielt ihr eigenes kleines Zimmer, zog es normalerweise aber vor, sich abends zusammen mit anderen schlafen zu legen. Noch immer litt sie an Albträumen von Schmerz und Qual, doch inzwischen waren sie sehr vage, ohne Einzelheiten.
Eines Abends, sieben Jahre nach ihrer Ankunft, brach ein Feuer aus, als der heiße Wüstenwind wehte. Sie alle kämpften verzweifelt gegen die Flammen und nutzten dabei das wenige Wasser, das ihnen zur Verfügung stand. Zehn von ihnen starben in Zimmern voller Rauch bei dem Versuch, Manuskripte in Sicherheit zu bringen, und schließlich warfen sie die kostbaren Originale aus hohen Fenstern auf den zentralen Hof und retteten alle bis auf zwei, bevor sie im Rauch erstickten oder im Feuer verbrannten. Sechs von ihnen kamen ums Leben, als ein ganzer Flügel des Refugiums, die Stützen vom Feuer geschwächt, in einem Ball aus Flammen und Rauch in die Wüste hinabstürzte. Lehmziegel brachen, Holz splitterte und Flammen fauchten, und trotz dieser schrecklichen Geräusche konnte man die Schreie der Sterbenden hören, als sie in die Tiefe fielen.
Es war Nacht geworden, und der Wind hatte aufgehört. Chay beobachtete, wie Funken vom in die Wüste hinabgestürzten Gebäudeflügel aufstiegen, heller und zahlreicher als die Sterne am dunklen Himmel.
Sie begruben die Toten auf dem kleinen Friedhof am Rand des Tafelbergs. Es
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