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Krieg der Seelen: Roman (German Edition)

Krieg der Seelen: Roman (German Edition)

Titel: Krieg der Seelen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iain Banks
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einer Greisin. Sie leitete das Refugium nach besten Kräften und half den Novizinnen und anderen Frauen, so gut sie konnte. Als Oberin musste sie mehrmals im Jahr in den Korb klettern und sich zu den kleinen Gebäuden am Fuß des Tafelbergs hinablassen, um dort mit den Repräsentanten der Wohltätigkeitsorganisation zu verhandeln, die die Manuskriptkopien zu den Städten brachte. Diese Repräsentanten waren ausschließlich Männer, und ihr blieb keine andere Wahl, als zu ihnen zu kommen, denn Männer durften das Refugium nicht betreten.
    Wenn sie im Korb langsam dem Wüstenboden entgegensank, dachte sie oft daran, wie sehr sie sich verändert hatte. Ihr altes Selbst– die Person, die sie im Realen gewesen war, vor der kurzen, traumatischen Reise durch die Hölle– hätte versucht, mit der Tradition zu brechen und die Dinge zu verändern. Sie hätte darauf hingewiesen, dass es nur eine idiotische, absurde, nicht hinterfragte Tradition war, die verhinderte, dass Männer in Körben nach oben gebracht werden konnten.
    Die Person, in die sie sich verwandelt hatte, die Person, die sie jetzt war, sah die Kraft in all diesen Argumenten und hielt trotzdem an der Bereitschaft fest, die Tradition fortzusetzen. Vielleicht war es falsch, in irgendeiner theoretischen Weise, aber vielleicht auch nicht. Und selbst wenn es falsch war, es richtete keinen großen Schaden an. Möglicherweise war es exzentrisch, sogar reizend. Jedenfalls, Chay wollte nicht die Oberin sein, während deren Amtszeit die Tradition verändert wurde.
    Sie hatte sich immer gefragt, wie nahe diese Simulation an eine wirkliche Welt mit einer sich wandelnden Gesellschaft herankam. Gab es wirklich die Städte, aus denen die Novizinnen, Reisenden und Repräsentanten der Wohltätigkeitsorganisation angeblich kamen? Arbeiteten die Bewohner dieser Städte, rangen sie jeden Tag um ihren Lebensunterhalt, so wie im Realen? Wenn man das Programm dieser Simulation weiterhin laufen ließ… Würde irgendwann jemand die Druckerpresse erfinden und das Kopieren von Büchern überflüssig machen, wodurch das Refugium seine Bedeutung verlor?
    Chay rechnete damit, dass irgendwann, bei einem der Treffen am Fuß des Tafelbergs, ein Wohltätigkeitsrepräsentant zu ihr kam und ihr, vielleicht voller Bedauern, ein gedrucktes Buch zeigte.
    Aber als sie sich dem näherte, was das Ende ihres Lebens in dieser Virtualität sein musste, wurden weiterhin frisch kopierte Manuskripte und Bücher fortgebracht, und es trafen weiterhin neue Schreibmaterialien, Lebensmittel und andere notwendige Dinge ein. Chay begriff, dass sie in der gleichen Gesellschaft sterben würde– sofern das Sterben hier einen Sinn hatte–, in der sie geboren war. Nach diesem Gedanken musste sie sich daran erinnern, dass sie nicht hier geboren, sondern als Erwachsene erwacht war.
    Einmal brachte man eine Novizin zu ihr, die die Existenz Gottes leugnete, und Chay richtete ähnliche Worte an sie, wie sie sie von der damaligen Oberin gehört hatte. Es bereitete ihr kein Vergnügen, dem Mädchen die Zelle mit den Ketten und Flegeln zu zeigen, obwohl das feuchte, dunkle Verlies nicht so schlimm roch wie damals, als man es ihr gezeigt hatte. Vielleicht deshalb, weil sie nie gezwungen gewesen war, Gebrauch davon zu machen. Oder ihr Geruchssinn ließ inzwischen zu wünschen übrig, wie auch ihre übrigen Sinne. Zum Glück gab die Novizin nach, wenn auch mit kaum verhohlener Verachtung, und es wurden keine weiteren Maßnahmen nötig. Chay fragte sich, ob sie wirklich imstande gewesen wäre, eine Bestrafung anzuordnen, wenn sich die Novizin nicht gefügt hätte.
    Sie sah immer schlechter und schaffte es schließlich nicht mehr, die Geschichte ihres Lebens in dem Buch fortzusetzen. Die Buchstaben waren mit dem Nachlassen ihres Augenlichts immer größer geworden. Eines Tages, dachte sie, würde eine ganze Seite nur noch Platz für einen Buchstaben bieten. Sie hatte nur zwei Drittel des Buches gefüllt, und wenn sie bald starb, würden viele Seiten leer bleiben. Doch das Schreiben immer größerer Buchstaben machte die ganze Angelegenheit lächerlich und wichtigtuerisch, und schließlich gab sie auf und schrieb nicht mehr. Sie war ohnehin längst bei ihrem aktuellen Leben angelangt und führte eigentlich nur noch ein langweiliges Tagebuch.
    Also langweilte sie stattdessen die Novizinnen mit ihrer Geschichte. Sie war die Oberin, als mussten sie ihr zuhören. Oder vielleicht waren die jungen Leute heutzutage nur sehr höflich. Von

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