Krieg der Seelen: Roman (German Edition)
Vögel flogen am Firmament, einzeln oder in kleinen Schwärmen. Manchmal landeten sie auf den höchsten Dächern des Refugiums und krächzten.
Gelegentlich kam Regen und strich in weiten, dunklen Schleiern übers Plateau, wie die Borsten eines riesigen Besens. Nachher hatte das Refugium für einen halben Tag einen seltsamen Geruch, und die offenen Zimmer und stillen Höfe waren voller tropfender Geräusche. Einmal stand Chay reglos da und lauschte dem gleichmäßigen Tröpfeln von einer überlaufenden Regenrinne– der Rhythmus entsprach genau dem Takt eines Gesangs in der Kapelle, und sie staunte über die schlichte Schönheit sowohl des einen als auch des anderen.
Ein Weg reichte übers Plateau zum flachen Horizont, und an seinem Ende führte ein steiler Pfad im Zickzack durch Klüfte und Schrunden am Rand des Plateaus, bis hinab zu den Bruchsteinhängen unten am Fuß der Klippe. Auf der anderen Seite des Plateaus, am Ende des Weges, gab es offenbar eine Straße, und diese Straße führte zu einer Stadt, oder zu vielen Städten. Aber selbst die nächste von ihnen war Dutzende von Tagesreisen entfernt, und sie standen in dem Ruf, schlechte Orte zu sein. Sie waren gefährlich und ungesund, Orte, die man besser mied und vor denen man in einem Refugium Zuflucht suchte. Chay hatte nie den Wunsch verspürt, jene Städte zu sehen; sie wünschte sich nie, das Refugium zu verlassen.
Man würde sie in Ruhe lassen, bis dies alles normal wurde, bis sie sich nur noch an dieses Leben erinnerte, und dann würde man sie in die Hölle zurückbringen. Chay vergaß das nie und nahm jeden Tag ohne Schmerz als ein Geschenk, ohne es für selbstverständlich zu halten, dass der nächste Tag ebenso beschaffen sein würde.
Seit über zwei Jahren befand sie sich im Refugium, als man sie bat, beim Kopieren der Manuskripte zu helfen. Das machten die Frauen des Refugiums, um für die Lebensmittel zu bezahlen, die sie über den Weg, die Straße, den Pfad und von den Gebäuden am Fuß des Tafelbergs erhielten: Sie fertigten perfekte Kopien alter, bebilderter Manuskripte an, verfasst in einer Sprache, die niemand von ihnen verstand. Die leeren Bücher, Stifte, Tinte und Blattgold kamen per Korb, und ein oder zwei Jahre später brachte der Korb die fertigen Kopien nach unten, auf dass sie ihre Rückreise zu den fernen Städten antreten konnten.
Man war nur allein, wenn man an den Manuskripten arbeitete. Dann bekam man einen leeren Kopierraum zugewiesen, mit einem Schreibtisch, einem zu kopierenden Manuskript, einem leeren Buch, das die Kopie werden sollte, und mit Stiften und Tinte. Jeder Kopierraum verfügte über ein einzelnes Fenster, so hoch oben in der Wand, dass es nicht ablenkte, aber genug Licht hereinließ. Nach einigen Stunden Arbeit begannen Chays Augen zu brennen. Dann war es eine Erleichterung für sie, mit den anderen zur Kapelle zu gehen und zu singen, die Augen geschlossen oder den Blick zum prächtigen Licht gehoben, das durch die bunten Fenster der Kapelle kam. Sie war zu einer guten Sängerin geworden und kannte viele der Lieder auswendig.
Beim Kopieren der Manuskripte gab sie sich große Mühe und bestaunte immer wieder ihre unlesbare Schönheit. Die Illustrationen zeigten Sterne, Planeten, Fabelwesen, uralte Gebäude und Pflanzen, viele Bäume, Blumen und grüne Landschaften. Trotzdem, dachte Chay, als sie mit großer Sorgfalt die Umrisse der Abbildungen nachzeichnete, sie dann ausmalte und anschließend die geheimnisvollen Buchstaben kopierte, vielleicht waren die Texte Anleitungen für die Folterung von Personen; vielleicht dienten die hübschen Bilder nur dazu, das Auge eines ahnungslosen Betrachters zu täuschen.
Sie arbeitete vor sich hin und füllte ihre Tage mit dem stummen Kopieren von Worten auf leere Seiten und dem Gesang in der Geborgenheit verheißenden Kapelle.
Die Bücher, die sie lesen konnte– sie stammten aus einer anderen Bibliothek und waren viel einfacher und schlichter als jene, die Chay und die anderen kopierten–, erzählten alle von einer Zeit lange vor ihrer Geburt, und die übrigen Frauen im Refugium sprachen nur von einer viel einfacheren Zeit: von Städten ohne öffentliche Transportmittel, von Schiffen ohne Segel und Motoren, von Medizin, die nicht viel besser war als gute Hoffnung, von einer Zeit ohne richtige Industrie, nur mit den Werkstätten einzelner Personen.
Trotzdem fanden sie Dinge, über die sie sprechen konnten: über die allgemeine Dummheit von Männern, das langweilige
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