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Krieg der Seelen: Roman (German Edition)

Krieg der Seelen: Roman (German Edition)

Titel: Krieg der Seelen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iain Banks
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geschah zum ersten Mal in all den Jahren, dass Chay das Refugium verließ. Es war eine kurze Zeremonie, die wichtigsten Worte aus dem Stegreif gesprochen. Die an den Gräbern gesungenen Lieder klangen seltsam ohne das Echo der Kapelle. Chay wusste nicht, was sie sagen sollte, stand stumm vor den kleinen Hügeln aus sandiger Erde mit den Grabmarkierungen aus Holz und dachte an die Qualen, die die Sterbenden kurz vor ihrem Tod erlitten hatten. Wenigstens war es schnell gegangen, und dann war es vorbei gewesen, für immer.
    Vielleicht, erinnerte sie sich. Sie befanden sich noch immer im Virtuellen; dies alles fand innerhalb einer Simulation statt, obwohl ein Beweis dafür fehlte. Wer von ihnen konnte wissen, was mit dem wahren Bewusstsein der hier gestorbenen Individuen geschehen sein mochte?
    In jener Nacht hatte Chay in einem der ausgebrannten Manuskripträume gestanden, als Teil der Feuerwache, die Ausschau hielt, für den Fall, dass das Feuer erneut ausbrach. Der Geruch von verbranntem Holz und neu gebackenem Lehm umgab sie. Hier und dort stiegen noch immer Rauchfäden auf. Chay überprüfte die entsprechenden Stellen, mit einer Laterne im einen Rüssel und einem Eimer Wasser im anderen.
    Unter einem umgekippten, verkohlten Tisch fand sie ein angesengtes leeres Buch. Es war klein und für das kleinste aller bisher zu kopierenden Manuskripte bestimmt gewesen. Chay strich über die Seiten, die sich am Rand verfärbt hatten, und begriff, dass dieses Buch jetzt nicht mehr für eine Kopie infrage kam. Es an die Stelle zurückzulegen, wo sie es gefunden hatte, brachte sie nicht fertig, und so steckte sie es ein.
    Später dachte sie an diesen Moment zurück und wusste, dass sie zu jenem Zeitpunkt keine Ahnung davon gehabt hatte, was sie mit dem kleinen Buch anfangen wollte. Vielleicht war es einfach nur ihre Absicht gewesen, es in ihrem Kopierraum aufzubewahren oder in ein Regal ihres Zimmers zu legen, als grimmiges Souvenir, ein memento mori.
    Stattdessen begann sie damit, darin zu schreiben. Sie nahm sich vor, die Geschichte ihres Lebens zu erzählen, mit einigen Dutzend Zeilen pro Tag. Es war nichts Verbotenes– soweit sie wusste, gab es keine Regeln, die so etwas untersagten–, aber sie hielt es trotzdem geheim.
    Sie verwendete abgenutzte Stifte, die so kratzig geworden waren, dass sie für die Anfertigung der Manuskriptkopien nicht mehr infrage kamen. Die Tinte machte sie aus der Kohle der verbrannten Scheite im Kamin.
    Das Leben ging weiter; sie bauten das Refugium wieder auf, und neue Novizinnen trafen ein. Die Oberin starb, und eine neue wurde gewählt– Chay durfte sogar an der Abstimmung teilnehmen und stieg etwas weiter in der Hierarchie auf. Die alte Oberin hatte auf die alte Weise bestattet werden wollen, auf dem höchsten Turm des Refugiums den Elementen und Aasvögeln überlassen. Chay zählte zu jenen, die das zweifelhafte Privileg hatten, die von den Vögeln abgenagten und von der Sonne weiß gebleichten Knochen einzusammeln.
    Fast ein Jahr nach dem Tod der Oberin, als sie eins der schönsten Lieder sang, brach sie plötzlich zusammen und weinte um die alte Frau. Sie begriff: Die Gesänge hatten nach und nach an Schönheit gewonnen und ihrem Leben einen Sinn gegeben.
    Zwanzig Jahre später war sie selbst Oberin, und wäre nicht die Geschichte ihres Lebens gewesen, aufgeschrieben in dem kleinen Buch, hätte sie vielleicht nicht mehr geglaubt, vorher ein anderes Leben gehabt zu haben: ein Leben als talentierte Akademikerin in einer freien Gesellschaft, mit Supraleitern, Weltraumliften, KI s und lebensverlängernden Behandlungen. Als Akademikerin, die beschlossen hatte, einige Monate in der virtuellen Hölle zu verbringen, Beweise zu sammeln und sie anschließend einer ungläubigen Welt– und einer ganzen ungläubigen Galaxis– zu präsentieren, was dazu beitragen sollte, die schrecklichen Höllen für immer zu vernichten.
    Über all die Jahre hinweg hatte sie in das zuvor leere Buch geschrieben, weit über das hinaus, woran sie sich an ihr Leben im Realen und ihre Zeit mit Prin in der virtuellen Hölle erinnerte. Sie hatte aufgeschrieben, was anschließend mit ihr geschehen war, hier in dieser stillen, ungestörten Existenz, die sie inzwischen liebte und an die sie glaubte, obwohl sie an jedem Abend damit rechnete, dass man sie fortholte, dass man sie zurückwarf in die Hölle…
    Sie war alt geworden. Falten durchzogen ihr Gesicht, ihr Fell war grau, und sie bewegte sich mit der mühevollen Steifheit

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