Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
dass sich hier Menschen treffen, die sich sonst im analogen Raum nie begegnen würden. Die digitale Revolution schafft es, ein paar Steine aus der Mauer zwischen den Kulturen zu brechen. Gefallen ist diese Mauer aber leider noch nicht, denn es gibt andere, die kräftig daran arbeiten, diese Löcher nicht nur zu schließen, sondern die Mauer sogar zu erhöhen. Aber sogar Videospiele können einen Beitrag zur Einpflanzung demokratischen Bewusstseins leisten. In Ägypten war ein Spiel beliebt, das »Herrschaft« heißt. Dort übernimmt der Spieler die Verantwortung für den Staat und muss Aufgaben lösen wie »Wie verhältst du dich, wenn ein Generalstreik das Land lähmt?«. Der virtuelle Herrscher hat die Option, sich wie ein Demokrat zu verhalten, der mit den Organisatoren des Streiks verhandelt, und einmal wie ein Diktator, der den Streik brutal niederschlägt. Dies macht junge Menschen automatisch empfänglich für Demokratie. Aber es ist wichtig zu betonen, dass nur zwischen 20 und 25 Prozent der jungen Araber Zugang zum Internet haben, und nicht alle von ihnen spielen das Demokratie-Spiel dort.
Die Einschätzung der französischen Statistiker Todd und Courbage bleibt nachvollziehbar, dass Alphabetisierung und Modernisierung auf eine Gesellschaft destabilisierend wirken und politische Umwälzungen mit sich bringen, wie die Revolutionen in England, Frankreich und Russland zeigen. Auch in Indonesien brachte die Bildung breiterer Bevölkerungsschichten erst heftige Gewaltausbrüche mit sich, bevor es zu einer Demokratisierung kam. Denn Söhne, die lesen und schreiben können, akzeptieren oft die Autorität ihrer Eltern nicht und wollen ihren eigenen Weg gehen. Für muslimische Frauen gilt das allerdings leider noch nicht, auch nach der Revolution nicht. In meinem letzten Buch »Der Untergang der islamischen Welt« ging ich mit dieser Studie kritisch um, und das tue ich heute noch. Denn es kommt nicht nur auf die Alphabetisierung an, sondern auch darauf, was die jungen Menschen lesen. Es geht nicht nur darum, dass sie eine Stimme bekommen, sondern was sie aus dieser Stimme machen. Alphabetisierte Muslime haben auch Zugang zum Korantext, was früher nur Gelehrten vorbehalten war, aber sie verfügen nicht über das nötige analytische Denken, das sie gegen die Tyrannei der Dogmen und die Demagogie der radikalen Gruppen schützt. Gleichzeitig ist diese junge Generation den Verführungen der Moderne und des Konsums wie keine andere ausgeliefert. Die Gleichzeitigkeit von Radikalisierung und Verwestlichung verschärft die Schizophrenie und höhlt die arabische Welt von innen her aus.
In der Tat laufen überall in der islamischen Welt Individualisierungsprozesse ab. Die Söhne befreien sich vom Mainstream-Islam ihrer Eltern, der die Autorität verherrlicht. Aber welche Alternativen finden die jungen Männer auf dem Markt des Glaubens und der Ideologien? Da sie kaum zivilgesellschaftliche Strukturen vorfinden, landen sie oft bei extremistischen Gruppen, die den Islam als eine Revolution sehen, aber keine Revolution gegen das alte Denken, sondern gegen die Ungläubigen.
Früher gab es in den arabischen Gesellschaften einen ungeschriebenen Pakt zwischen der Gemeinschaft und dem Individuum: Du opferst deine Individualität, befolgst unsere Regeln und Sitten, dann bekommst du von uns als Belohnung dafür Anerkennung, wirtschaftliche Unterstützung, eine Gattin oder einen Gatten und gegebenenfalls einen Job auf dem Feld oder im Familiengeschäft. In der heutigen globalisierten Welt funktioniert dieser Pakt nicht mehr. Die Gemeinschaft kann ihr Versprechen an die Einzelnen nicht mehr einhalten. Die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der Länder drängen die jungen Männer und gelegentlich auch die jungen Frauen dazu, sich abzukapseln und nach individuellen Lösungen für sich zu suchen. Migration, religiöser Extremismus und Revolten können Folgen eines unkontrollierten Individualisierungsprozesses sein. Und, negativer noch, das Zusammenbrechen alter Strukturen kann durchaus auch zur Freisetzung von kriminellen Energien und zu Anarchismus führen.
Wie Mubarak war auch Tunesiens Ex-Diktator Ben Ali ein Offizier der Armee. Er besuchte die französische Militärakademie in Saint-Cyr und die US Army Intelligence School in Fort Holabird in Maryland. Nach einem Militärputsch gegen Machthaber Bourguiba 1987 wurde er Präsident Tunesiens. Aus Angst davor, dass er auf die gleiche Art und Weise aus dem Amt gejagt würde, ließ
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