Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
gelegentlich rational und praxisbezogen interpretieren können, neigt die Diaspora offenkundig häufig dazu, zum gleichen Konflikt in einer praxisfernen Emotionalität Stellung zu beziehen.
Auf der anderen Seite gibt es Juden, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen, und Muslime, die aus Selbstreflexion Selbstgeißelung betreiben. Diese Extremkritiker, die oft nur maskierte Opportunisten sind, werden gerne von der jeweils anderen Seite als Kronzeugen ihrer Sichtweise bejubelt, obwohl sie nichts tun, außer Öl ins Feuer des Konflikts zu gießen. So ist aus dem jüdisch-islamischen Dialog nur allzu selten etwas Positives hervorgegangen.
Nicht Legenden, Gebote und heilige Stätten, sondern gemeinsame Interessen sollen Gegenstand des Dialogs sein. Nicht nach Parallelen zwischen der Islamkritik von heute und dem Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist zu suchen, sondern danach, wie Muslime aus der Geschichte der jüdischen Reformation und Emanzipation in Europa lernen können. Nicht der interreligiöse Dialog, sondern wirtschaftliche Interessen sollten die Basis für einen »warmen« Frieden sein. Israel verfügt über Know-how in der IT -Branche, in der Agrar-, Wasserentsalzungs- und Solartechnologie, das für die gesamte Region von größtem Nutzen sein kann. Dafür gibt es einen Absatzmarkt von 300 Millionen überwiegend jungen Arabern. Viele von ihnen sind schon heute neugierig darauf, wie Israel wirklich aussieht, wollen dorthin reisen und Geschäfte machen. Aber sie würden ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie von Israel profitieren, während die Palästinenser noch nicht von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen können. Sollte es zu einer fairen Regelung des Konfliktes kommen, wäre eine gewaltige psychische Hürde auf dem Weg zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit überwunden. Die Vision einer riesigen Freihandelszone in der Region kann mehr Wohlstand und wirkliche Stabilität bringen. Die Alternative dazu ist nur die Hinauszögerung der Katastrophe, denn der Status quo ist spätestens seit der arabischen Revolution eine tickende Zeitbombe.
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Krieg oder Frieden.
Wohin treibt die arabische Revolution?
I n vier Wochen schafften es die Tunesier, ihren langjährigen Diktator loszuwerden. Den Ägyptern reichten 18 Tage. Euphorie brach weltweit aus. Ein Dominoeffekt war nun überall in der arabischen Welt zu erwarten. Ich gehörte selbst zu den großen Optimisten und sagte bereits vor dem Sturz Mubaraks dem »Heute Journal« am 1. Februar, die Tunesier und Ägypter hätten nun eine Sterbeurkunde für alle arabischen Diktaturen ausgestellt. Ein Schneeball sei ins Rollen geraten und würde immer größer, es gebe kein Zurück mehr.
Nach dem Sturz der Despoten in Tunesien und Ägypten reagierten die Golfstaaten nervös und boten ihrer Bevölkerung finanzielle Vorteile an. In Marokko, im Oman und in Jordanien zeigten sich die Machthaber versöhnlich und kündigten politische Reformen an. Noch nie nahmen die Machthaber die eigene Bevölkerung so ernst wie im Winter und Frühjahr 2011. Das gab Anlass zur Hoffnung, dass sich die arabische Welt, wie wir sie bislang kannten, gewaltig transformieren würde. Mittlerweile habe ich meinen Optimismus zwar nicht aufgegeben, musste aber meine Euphorie bremsen. Heute benutze ich die Metapher des Schneeballs weniger häufig. Die Ereignisse vergleiche ich eher mit dem Spiel »Mensch ärgere dich nicht«, wo es in rasantem Tempo vorwärts und rückwärts geht und wo wir oft nach deutlichem Fortschritt wieder auf dem Ausgangsfeld landen. Und so kehrt der Begriff Revolution zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurück, als er im 15. Jahrhundert eingeführt wurde. Der Erste, der diesen Begriff verwendete, war der Astronom Nikolaus Kopernikus; er meinte mit »De revolutionibus orbium coelestium« das Zurückwälzen oder die Rückkehr der Himmelskörper zu ihrem Ausgangspunkt. Doch was in der arabischen Revolution wie ein Rückschlag oder eine Umkehr aussieht, ist die natürliche Entwicklung einer verspäteten Revolte.
Die Entwicklungen in Libyen, im Jemen, in Bahrain und Syrien zeigten, dass es nicht reicht, wenn die Menschen ihre Ängste ablegen und auf die Straße gehen, um den Diktator zu bezwingen. Gaddafi verhielt sich anders als Ben Ali und Mubarak. Er ging nicht auf die Forderungen der Demonstranten ein, sondern bezeichnete sie von Anfang an als Ratten. Er versprach keine Reformen, sondern Härte gegen die Rebellen. Auch sein Militär verhielt sich
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