Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Schritt sein, um eine wirkliche Demokratie langfristig zu etablieren, denn in beiden Ländern wird zum ersten Mal öffentlich über Wahlprogramme diskutiert. Debatten zwischen Präsidentschaftskandidaten werden im Fernsehen live übertragen und von vielen Menschen verfolgt. Viele junge Menschen, die früher nie wählen gegangen wären, warten jetzt sehnsüchtig auf die Wahlen.
Darunter ist Ragi (24), Student an der Universität Kairo, den ich eine Stunde nach seiner Entlassung aus dem Militärgefängnis kennengelernt habe. Er wurde am 9. März von der Militärpolizei verhaftet, gefoltert und vor Gericht gestellt, nur weil er demonstriert hatte. Sein Vater, der sich über seine Entlassung freute, erzählte mir, dass Ragi früher apolitisch war und sich immer aufregte, wenn sein Vater die Nachrichten hörte. »Es gibt sowieso nichts Neues«, maulte er. Nachdem er mir die Spuren der Folter an seinem Körper gezeigt hatte, erzählte Ragi, dass er sich erst für Politik zu interessieren begann, als der damalige Chef der Internationalen Atomenergiebehörde Mohamed El-Baradei im Dezember 2009 nach Ägypten zurückkehrte und über den Wandel in Ägypten sprach. Doch an diesen Wandel konnte Ragi nicht wirklich glauben. Auch als er hörte, eine große Demonstration sei am 25. Januar geplant, sagte er: »Ja und? Die Demonstranten werden ein bisschen schreien, dann werden sie verprügelt, dann gehen sie nach Hause, und alles bleibt beim Alten.« Erst als er merkte, dass es sich um eine Volksbewegung handelte, ging er am 28. Januar zum Tahrir-Platz und erlebte dort die Niederlage des Regimes. Seitdem wollte er den Tahrir nicht mehr verlassen, auch nach dem Sturz Mubaraks demonstrierte er immer wieder, bis er verhaftet wurde. Auf die Frage, ob er nun enttäuscht sei, dass die Armee ihn gefoltert hat, sagte er entschlossen: »Im Gegenteil, das zeigt mir, dass ich recht hatte. Diese Revolution geht in die richtige Richtung und darf nicht auf halber Strecke anhalten. Am Anfang dachten die Leute, die Armeeleute seien Engel. Aber diese Aktionen zeigen, dass sie ein Teil des alten Regimes sind.«
Vielleicht werden Menschen wie Ragi eine Minderheit bei den nächsten Wahlen sein. Die meisten anderen Wähler stecken in einem Dilemma. Bis zum 11. Februar einigten sich die meisten Ägypter auf ein Ziel: den Sturz des Diktators. Seither ist es schwieriger geworden, sie auf eine Linie zu bringen. Die Revolution hat ihnen eine Stimme gegeben, aber viele wissen noch nicht genau, was sie mit dieser anfangen können. Man kann ihre Stimme nicht nur kaufen, sondern auch leicht manipulieren. Der beste Zugang zu dieser Mehrheit sind ihr Nationalstolz und ihre religiösen Gefühle. Deshalb finden heute Populisten wie der frühere Außenminister oder religiöse Eiferer wie der Jura-Professor Selim al-Awwa große Zustimmung bei den ärmeren Schichten, während Reformer wie Mohamed El-Baradei nur unter gebildeten Schichten beliebt sind.
Aber in 10 bis 20 Jahren – vorausgesetzt, die richtigen Schritte werden politisch wie wirtschaftlich unternommen – werden Menschen wie Ragi nicht nur die typischen Wähler, sondern auch die typischen Kandidaten sein. Die Revolution hat die Macht in Ägypten nicht übernommen, aber sie hat einer Generation eine Stimme verliehen. Diese Generation braucht Zeit, um diese Stimme richtig zu verwenden und in politische Veränderungen umzusetzen. Eine Bewusstseinsrevolution findet bei den jungen Menschen durchaus statt. Davon kann die politische Landschaft im Lande nicht lange verschont bleiben. Vielleicht werden wir den ägyptischen Barack Obama in einigen Jahren erleben. Sollte es ihn tatsächlich geben, dann gehört er ohne Zweifel zur Generation Tahrir.
Jede politische Partei versucht nun, die Jugend zu gewinnen. Sogar radikale Islamisten wie die Anhänger der Dschama’a Islamiyya, die früher in mehrere Terroranschläge im Land verwickelt waren, haben sich von ihrer alten Gewaltrhetorik gelöst, weil diese bei der Jugend nicht mehr gut ankommt. Alle islamistischen Parteien geben sich jetzt zivile Namen wie »Gerechtigkeit und Freiheit«, »Aufbau und Entwicklung« und »Renaissance«, weil sie wissen, dass junge Menschen zwar von Predigern in der Moschee gerne Botschaften über Himmel und Hölle hören, aber von Politikern einen Plan zur Entwicklung des Landes und zur konkreten Verbesserung ihrer Lebenssituation erwarten. Es gilt als Konsens in Ägypten, dass die Hauptziele der Politik in den kommenden Jahren
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