Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
anders als in Ägypten und Tunesien. Da die Streitkräfte in Libyen hauptsächlich aus Milizen bestehen, die den Söhnen Gaddafis unterstellt sind, gab es nur wenige Fälle von Desertion. Gaddafis Truppen schossen auf die Bevölkerung und hielten ihn dadurch an der Macht. Dies bot den Diktatoren im Jemen, in Syrien und Bahrain eine viel attraktivere Option als die von Ben Ali und Mubarak. Sie begriffen, dass weiche Diktatoren durch Demonstrationen stürzten, weil man Rücksicht auf die Zahl der Toten nimmt, während harte Diktatoren länger überlebten, weil sie skrupellos zuschlagen und bereit sind, über Leichen zu gehen. Zwar sind Gaddafi und Saleh mittlerweile auch zu politischen Leichen mutiert, doch die Militarisierung der Aufstände in ihren beiden Ländern beschädigte den friedlich Charakter der arabischen Revolution und unterbrachen den Dominoeffekt aus Tunesien und Ägypten. Denn die Sturheit der beiden Diktatoren führt dazu, dass sich die Rebellen bewaffneten, was eine politische Lösung nach dem Sturz des Diktators erschweren dürfte. Je länger der Kampf andauert, desto mehr verlernt man die Kunst des Verhandelns. Kämpfern, die gelernt haben, Konflikte mit Gewalt zu lösen, wird es später schwerfallen, auf ihre Waffen zu verzichten, um politische Kompromisse einzugehen. Die im Jemen und in Libyen verankerten Stammesstrukturen und die Bedeutung der Blutrache werden dafür sorgen, dass nach dem Sturz des Diktators, der nur eine Frage der Zeit ist, in absehbarer Zeit keine stabile zivilgesellschaftliche Struktur entstehen wird. Zwar plädiert ein Teil der Kräfte, die die Revolte entfesselt haben, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, doch die religiösen und patriarchalischen Strukturen scheinen viel stärker zu sein.
Sogar in Tunesien und Ägypten, die über ein Mindestmaß an demokratischen Traditionen und zivilgesellschaftlicher Infrastruktur verfügen, ist der Weg zu einer wirklichen Demokratie sehr steinig, denn in beiden Ländern sind die Kräfte der Gegenrevolution stark. Anhänger der alten Regime, die entweder um ihre Privilegien fürchten oder vor juristischer Verfolgung Angst haben, arbeiten unermüdlich daran, dass der demokratische Aufbau scheitert. Da sie ihre Männer noch überall in den wichtigsten Einrichtungen beider Länder haben (Polizei, Justizministerium, Medien, Banken sowie in der Verwaltung), gelingt es ihnen immer wieder, Unruhe zu schüren und Engpässe bei den Nahrungsmitteln vorzutäuschen, was zu einer Überteuerung führt. Dies löst bei einem großen Teil der Bevölkerung, der sich an der Revolution nicht beteiligt hat, negative Gefühle gegenüber der Veränderung aus. Die Ungeduld der Unterschicht und ihr Wunsch, die Früchte der Revolution zu ernten, bevor die Saat überhaupt aufgegangen ist, ist ein unfreiwilliger Teil der Gegenrevolution. Genau auf diese Bevölkerungsteile setzen die Anhänger des alten Regimes und sehen in ihnen Wähler für die kommenden Wahlen. Zum einen manipulieren sie die Preise für Benzin und Nahrungsmittel, zum anderen schicken sie die Schlägerbanden los, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie bleiben aber nicht mehr bei ihrem alten »Kamel gegen Facebook«, sondern erobern auch die sozialen Netzwerke im Internet und versuchen, sie zu ihren Gunsten zu manipulieren.
Zwar wurden die Verfassungspartei von Ben Ali und die Nationalpartei von Mubarak offiziell aufgelöst, aber deren Mitglieder können sich rasch neu organisieren und entweder als unabhängige Kandidaten oder als neue Partei bei den Wahlen antreten. Wahrscheinlich wird es nicht zu einer erneuten Wahlfälschung kommen, doch dies garantiert nicht, dass die neugewählten Parlamente den Erwartungen der revolutionären Kräfte in beiden Ländern entsprechen werden.
Gerade in Ägypten, wo viele Menschen unter Analphabetismus und Armut leiden und wo es üblich ist, Stimmen zu kaufen, können Kandidaten, die über größere finanzielle Ressourcen verfügen, die Armen für sich gewinnen. Reiche Geschäftsleute, die mit dem alten Regime Geschäfte machen, Kandidaten der Muslimbrüder, die mit finanzieller Hilfe aus Katar, und Salafisten, die mit der Unterstützung Saudi-Arabiens rechnen können, werden viel bessere Karten haben als liberale und linke Kandidaten, die über geringe finanzielle Ressourcen verfügen. Deshalb darf man nicht hoffen, dass freie Wahlen automatisch ein demokratisches Parlament hervorbringen werden. Dennoch werden diese Wahlen ein wichtiger
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