Krieg und Frieden
welchen er zu erschießen sich gedrungen fühlte. Kuragin, nach dem er sich bei seiner Ankunft in Petersburg sogleich erkundigt hatte, war nicht dort. Peter hatte seinem Schwager Nachricht gegeben, daß Fürst Andree ihn suche. Anatol erhielt sogleich eine Ernennung vom Kriegsminister und fuhr zur Armee in der Moldau. Zu derselben Zeit traf Fürst Andree in Petersburg seinen früheren General Kutusow, der ihm vorschlug, sogleich mit ihm zur Armee in der Moldau abzureisen, zu deren Oberkommandierenden der alte General ernannt worden war. Nachdem Fürst Andree dem Stab des Hauptquartiers zugezählt worden war, reiste er nach der Türkei ab. Fürst Andree hielt es für unnütz, an Kuragin zu schreiben und ihn herauszufordern. Solange Fürst Andree keinen neuen Anlaß zum Duell hatte, mußte eine Herausforderung seinerseits die Gräfin Rostow kompromittieren, und deshalb wollte er eine persönliche Begegnung mit Kuragin abwarten, um einen neuen Grund zum Duell zu erhalten. Aber auch bei der Armee in der Moldau fand er Kuragin nicht, da dieser bald nach der Ankunft des Fürsten Andree nach Rußland zurückgekehrt war. In dem neuen Lande und in einer neuen Lebensstellung wurde Fürst Andree das Leben leichter. Der Kriegsdienst war die geeignetste Tätigkeit für ihn. In der Stellung eines Adjutanten beim Stabe Kutusows nahm er sich mit Ausdauer und Eifer der Geschäfte an und setzte Kutusows durch seine Arbeitslust und Pünktlichkeit in Erstaunen. Nachdem er Kuragin in der Moldau nicht gefunden hatte, hielt er es nicht für notwendig, wieder nach Rußland hinter ihm her zu galoppieren. Er war überzeugt, ihn früher oder später zu finden, aber der Gedanke, daß die Beleidigung noch nicht gerächt war, vergiftete diese künstliche Ruhe, welche Fürst Andree bei seiner eifrigen und etwas ehrfürchtigen Tätigkeit äußerlich zeigte. Im Jahre 1812, als die Nachricht von dem bevorstehenden Krieg mit Napoleon nach Bukarest gelangte, bat Fürst Andree um Versetzung zur Westarmee. Kutusow, dem die eifrige Tätigkeit Bolkonskys ein Vorwurf wegen seiner Müßigkeit war, entließ ihn sehr gern und gab ihm eine Empfehlung an Barclay de Tolly. Ehe er zur Armee abfuhr, welche sich im Mai im Lager bei Drissa befand, machte Fürst Andree einen Besuch in Lysy Gory, das nahe an seinem Wege lag. Die letzten drei Jahre hatten Fürst Andree so viele Umwälzungen gebracht, er hatte so Verschiedenes empfunden und durchschaut und Ost und West bereist, daß er mit einer Art von Erstaunen wahrnahm, wie in Lysy Gory alles denselben Verlauf nahm wie früher. Wie in einem verzauberten, schlafenden Schloß fuhr er durch die Allee bis zum Herrenhaus. Es herrschte dieselbe Würde, Reinlichkeit und Stille in diesem Haus mit denselben Möbeln und Wänden und demselben Geruch und denselben eingeschüchterten Gesichtern. Auch die etwas gealterte Fürstin Marie war ebenso schüchtern, unschön und durch immerwährende moralische Leiden gedrückt. Mademoiselle Bourienne war dasselbe selbstzufriedene, kokette Mädchen, welches jede Minute des Lebens freudig genoß und voll fröhlicher Hoffnungen war. Sie schien Andree nur zuversichtlicher geworden zu sein. Der aus der Schweiz mitgebrachte Erzieher Desalles trug einen Rock von russischem Schnitt, sprach stotternd Russisch mit den Dienstleuten, war immer derselbe beschränkte, gebildete, tugendhafte und pedantische Erzieher. Die einzige Veränderung an dem alten Fürsten war, daß er einen Zahn verloren hatte. Sein Wesen war dasselbe wie früher, er war nur noch etwas zänkischer und verdrießlicher über das, was in der Welt vorging. Nur der kleine Nikolai war gewachsen und hatte sich verändert. Der rotwangige, lockenköpfige Knabe spielte heiter und vergnügt und zog die Oberlippe seines hübschen Mundes ebenso in die Höhe wie seine verstorbene Mutter. Er allein gehorchte nicht dem Gesetz der Unveränderlichkeit in diesem verzauberten Schloß. Aber wenn auch im Äußeren alles beim alten geblieben war, so hatten sich doch die inneren Beziehungen aller dieser Personen sehr verändert, seit Andree sie nicht gesehen hatte. Die Familie war in zwei einander fremde und feindliche Lager geteilt, welche sich nur während seiner Anwesenheit vertrugen. Zu dem einen Lager gehörte der alte Fürst, Mademoiselle Bourienne und der Architekt, zu dem anderen Fürstin Marie, Desalles, Nikolai und der ganze weibliche Anhang.
Während seiner Anwesenheit in Lysy Gory speisten die Bewohner miteinander, alle fühlten sich
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