Krieg und Frieden
»Natalie weiß es noch nicht, aber er fährt mit uns«, erwiderte Sonja.
»Du sagst, er sei schwer verwundet?«
Sonja nickte. Die Gräfin umarmte sie und weinte. »Die Wege Gottes sind wunderbar!« dachte sie.
»Nun, Mama, alles ist fertig, wo bleiben Sie?« fragte Natalie, welche mit gerötetem Gesicht auf der Schwelle stand.
»Gut, gehen wir!« sagte die Gräfin und beugte sich auf ihre Handtasche herab, um ihr ihre ängstliche Miene zu verbergen. Sonja umarmte Natalie und küßte sie. Natalie blickte sie fragend an.
»Was ist dir? Was ist geschehen?« fragte sie.
»Nichts! ... Nichts! ...«
»Etwas Schlimmes für mich? Was ist es?« fragte Natalie.
Sonja seufzte und gab keine Antwort. Der Graf, Petja, Madame Chausse, Mawra und Wassilitsch traten in den Saal. Die Türen wurden verschlossen, alle setzten sich und saßen schweigend einige Augenblicke da.
Der Graf erhob sich zuerst mit einem schweren Seufzer und bekreuzigte sich vor dem Heiligenbild. Alle folgten seinem Beispiel. Dann umarmte der Graf Mawra und Wassilitsch, welche in Moskau zurückblieben, und während sie seine Hand küßten, klopfte er sie auf den Rücken und sprach einige unklare, freundliche, tröstende Worte. Die Gräfin ging in die Hauskapelle, und Sonja fand sie dort auf den Knien vor den zurückgelassenen Heiligenbildern. Diejenigen, welche nach den Familienüberlieferungen die kostbarsten waren, wurden mitgenommen. An der Haupttreppe und auf dem Hof verabschiedeten sich von den Zurückbleibenden die Leute, welche Petja mit Dolchen und Säbeln bewaffnet hatte und die mit in die Stiefel gesteckten Beinkleidern und mit Riemen umgürteten Kitteln hinauszogen.
Wie immer bei einer Abreise wurde viel vergessen und vieles mußte anders gelegt werden. Ziemlich lange standen zwei Heiducken zu beiden Seiten der geöffneten Wagentüren, um der Gräfin in den Wagen zu helfen, während Mädchen mit Kissen und Bündeln aus dem Hause nach dem Wagen, der Kalesche und dem Jagdwagen zuliefen, und dann wieder ins Haus zurückeilten.
»Ewig haben sie etwas vergessen«, sagte die Gräfin. »Du weißt doch, daß ich nicht so sitzen kann!« Und Dunjascha stieg mit zusammengebissenen Zähnen in den Wagen, um den Sitz besser zu arrangieren.
»Ach, dieses Volk!« sagte der Graf, den Kopf wiegend.
Der alte Kutscher Jefim, mit dem allein die Gräfin fahren wollte, saß hoch auf seinem Bock und blickte sich nicht um nach dem, was hinten geschah. Aus dreißigjähriger Erfahrung wußte er, daß man ihm noch nicht so bald zurufen werde: »Mit Gott!« und daß er dann, wenn das auch gesagt sei, noch zweimal anhalten müsse, damit man nach vergessenen Sachen senden könne, und daß er darauf noch einmal anhalten müsse, worauf die Gräfin den Kopf zum Fenster hinausstrecken und ihn im Namen Christi bitten werde, vorsichtig zu fahren, wenn es bergab gehe. Das wußte er und erwartete daher geduldiger als seine Pferde, was kommen werde. Endlich hatten alle Platz genommen, die Stufen an der Kutsche wurden hinaufgeschlagen, die Türen zugeschlagen, dann sandte man noch nach einer Schatulle, die Gräfin steckte den Kopf durchs Fenster und sprach, was sich gehörte. Dann nahm Jefim langsam die Mütze vom Kopf und bekreuzigte sich. Der Vorreiter und alle Leute folgten seinem Beispiel.
»Mit Gott!« sagte Jefim und setzte die Mütze auf. Der Vorreiter trabte voran, das Handpferd stemmte sich gegen das Kummet, die hohen Wagenfedern ächzten und die Kutschen bewegten sich. Ein Lakai sprang auf den Bock, die schwere Equipage fuhr schwankend aus dem Hof hinaus auf das holperige Pflaster, und der Wagenzug fuhr die Straße entlang. In den Wagen bekreuzigten sich alle vor der gegenüberliegenden Kirche. Die Dienstleute, welche in Moskau zurückblieben, gingen zu beiden Seiten der Equipage her, um sie zu begleiten.
Selten hatte Natalie eine so freudige Erregung empfunden wie jetzt, als sie langsam durch die Straßen des verlassenen Moskau fuhren. Sie blickte oft zurück und dann vorwärts nach dem langen Wagenzug der Verwundeten, der ihnen voranfuhr. Fast allen voran, erblickte sie die geschlossene Kalesche des Fürsten Andree. Sie wußte nicht, wer darin war, suchte sie aber immer mit den Augen.
Aus verschiedenen Straßen kamen noch ähnliche Wagenzüge heraus, und auf der Sadowajastraße fuhren Equipagen und Wagen in zwei Reihen nebeneinander. Als Natalie beim Sucharewturm (Zwiebacksturm) neugierig auf die Volksmenge hinausblickte, rief sie plötzlich laut und verwundert
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