Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Krieg – Wozu er gut ist

Krieg – Wozu er gut ist

Titel: Krieg – Wozu er gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
Vom Netzwerk:
ich [1727] auf die Welt kam oder als Sie, ein jüngerer Mann, [1735] geboren wurden, geglaubt, dass wir heute, an diesem Tag in diesem Haus das Verhalten jener britischen Untertanen erörtern würden, die über die Macht und die Person des Großmoguls *29 verfügen?«, fragte Burke 1783 den Sprecher des britischen Unterhauses. 43
Die unsichtbare Faust
    Zwischen der Eroberung Ceutas durch die Portugiesen und Burkes Unterhausrede 1783 hatten die Westeuropäer Millionen Quadratkilometer Land und zig Millionen Menschen erobert. Sie hatten den produktiven Krieg nicht nur wiederbelebt, sondern neu erfunden, indem sie ihn global führten und völlig neuartige größere Gesellschaften herausbildeten. Dabei erfanden sie auch Leviathan neu, statt ihn nur wiederzubeleben. Jenseits der Weltmeere, in Amerika, Asien und Afrika, tobten Kriege fast allüberall. Nur in der westeuropäischen Heimat sank die Zahl der Todesopfer durch Gewalt schneller und tiefer denn je.
    Das 15. Jahrhundert war vielleicht das blutigste gewesen seit dem Zusammenbruch des Römischen Reichs tausend Jahre zuvor – eine Zeit, in der arbeitslose Söldner Frankreich und Italien verwüsteten und ein Bürgerkrieg England zerriss. »O kläglich Schauspiel! o der blut’gen Zeit!«, ließ Shakespeare seinen König Heinrich VI. 1461 ausrufen, als 50   000 Mann stundenlang im Schneesturm aufeinander eindroschen, um über den Anspruch des wirklichen Heinrich auf den englischen Thron zu entscheiden. 44 Und angesichts der Funde, die Archäologen auf dem Schlachtfeld von Towton machten, war sein Aufschrei durchaus berechtigt. Ein Soldat, heute nur bekannt unter seiner Kennnummer Towton 25, war unter dem Ansturm von Hieben zusammengebrochen, die seinen Schädel achtfach zertrümmert hatten. Die ersten fünf Einstiche trafen sein Gesicht, waren aber nicht tödlich, dann zerschmetterte ein ungeheurer Schlag von hinten seinen Schädel und trieb Knochensplitter in sein Gehirn. Er fiel nach vorn, aber ein weiterer Hiebdrehte ihn um, bevor ein letzter Schwerthieb, der durch die Augenhöhle eindrang und an der Kehle austrat, sein Gesicht zweiteilte (Abbildung 4.10).
    [Bild vergrößern]
    Abbildung 4.10O der blut’gen Zeit!
    Schädel Towton 25, 1461 mit acht Hieben zertrümmert.

    Manchen erging es noch schlimmer. Sein Kamerad mit der Kennnummer Towton 32 erlitt 30 Kopfwunden, darunter einen Hieb, der ihm das Ohr abtrennte. Auch die beteiligten Könige waren nicht immun. In der letzten Bürgerkriegsschlacht 1485 wurde Richard III. (dessen Überreste im August 2012 unter einem Parkplatz in Leicester gefunden und anhand seines gekrümmten Rückgrats und der DNS ein halbes Jahr später identifiziert wurden) gefesselt, sein Schädel mit einem Schwert sauber gespalten und mit einer Hellebarde nochmals zerhackt. Nach seinem Tod spießte man ihn durch das Hinterteil auf und warf ihn in eine Grube.
    Als Burke seine Rede hielt, konnte sich niemand vorstellen, dass es in Westeuropa je wieder solche Gewalt geben könnte. Im Laufe der vorangegangenen dreihundert Jahre hatte der Staat seine Autorität behauptet – in dem verzweifelten Bemühen, Geld für riesige Armeen und Kriegsflotten, starke neue Schiffe und Geschütze und professionelle Offiziere und Soldaten aufzutreiben. Das war Elias’ »Zivilisationsprozess«: der Anbruch eines Zeitalters der Vernunft, Ordnung und Prosperität, das Könige wie Heinrich und Richard hätte staunen lassen.
    Dieser Prozess verlief jedoch ungleichmäßig. Das 17. Jahrhundert erlebte eine weitere Welle gescheiterter Staaten, die Hobbes veranlasste, seinen Leviathan zu schreiben. Aber 1783 gehörten Piraten und Straßenräuber allmählich der Vergangenheit an (der Pirat Blackbeard war 1718 enthauptet – er soll dann allerdings kopflos noch zwei Runden um sein Schiff herumgeschwommen sein – und der Straßenräuber Dick Turpin 1739 gehängt worden), und die Mordrate war gesunken. Um 1480 wurde etwa ein Westeuropäer von hundert ermordet, um 1780 erlitt nur noch einer von tausend dieses Schicksal. Burkes England war vermutlich das sicherste Land, das die Welt je erlebt hatte.
    Die Westeuropäer spulten in gewissem Sinne das Band der antiken Geschichte erneut ab. Wie die Römer, die Maurya und die Han vor ihnen schufen sie größere Leviathane. Genau wie zu Zeiten der Antike war dieser Prozess brutal und ausbeuterisch, aber, ebenfalls wie zu Zeiten der Antike, senkte er langfristig die Rate gewaltsamer Todesfälle und förderte den Wohlstand.

Weitere Kostenlose Bücher