Krieg – Wozu er gut ist
Intellektuelle waren sich dessen durchaus bewusst, widmeten dem »Streit der Alten und der Neuen« (querelle des anciens et des modernes) polemische Schriften und gelehrte Abhandlungen und stritten, ob – oder wann – sie die Errungenschaften der Antike übertroffen hätten. (Der gesellschaftliche Entwicklungsindex, den ich in meinen früheren Büchern Wer regiert die Welt? und The Measure of Civilization beschrieben habe, liefert meiner Ansicht nach Antworten, die ihnen gefallen hätten: ja, und zwar 1720.) In anderer Hinsicht gingen die Europäer jedoch weit über die Römer hinaus: Wie der produktive Krieg wurde auch Leviathan von ihnen weniger wiederbelebt als vielmehr neu erfunden.
Indem die Westeuropäer Imperien über die Meere hinweg errichteten, statt ein herkömmliches Territorialreich aufzubauen, schufen sie eine völlig neuartige Wirtschaft, die ein verblüffendes Maß an Wohlstand hervorbrachte. Allein in Großbritannien boomten die Exporte und stiegen von zwei Millionen Pfund im Jahr 1700 auf annähernd vierzig Millionen Pfund gegen Ende des Jahrhunderts.
Was die neue Wirtschaft so stark von allem Vorherigen unterschied, war der Atlantik. Europas Eroberung Amerikas hatte den Nordteil des Meeres in eine Art perfekten Ozean verwandelt, groß genug, um an seinen Küsten sehr unterschiedliche ökologische Bedingungen und Gesellschaften zu bieten, aber klein genug, dass Schiffe ihn überqueren, an jedem Punkt Handel treiben und stetige Profite erwirtschaften konnten (Abbildung 4.11).
Gewöhnlich bezeichnen Historiker diesen Vorgang als »atlantischen Dreieckshandel«. Ein Kaufmann konnte von Liverpool mit einer Schiffsladung Textilien oder Waffen aufbrechen, nach Senegal segeln und seine Fracht dort mit Gewinn gegen Sklaven eintauschen. Dann brachte er die Sklaven nach Jamaika, tauschte sie (wieder mit Gewinn) gegen Zucker ein, den er in England mit weiteren Gewinnen verkaufte, bevor er eine neue Lieferung Fertigprodukte kaufte und damit wieder nach Afrika fuhr. Alternativ konnte ein Kaufmann aus Boston Rum nach Afrika liefern und gegen Sklaven eintauschen, die Sklaven in die Karibik bringen und gegen Melasse tauschen, die er wiederum nach Neuengland beförderte, um sie zu Rum zu verarbeiten.
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Abbildung 4.11Der perfekte Ozean
Der atlantische Dreieckshandel brachte beispiellosen Wohlstand hervor, löste eine Marktrevolution in Europa aus und transportierte zwölf Millionen Afrikaner nach Amerika in die Sklaverei.
Europas Eroberung Amerikas hatte etwas völlig Unerwartetes geschaffen: einen integrierten interkontinentalen Markt, der eine geografische Arbeitsteilung hervorbrachte und Menschen an jeder Küste reich machte. Er gab jedem Land an der Nordatlantikküste einen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber anderen und ermunterte Unternehmer, sich zu spezialisieren: auf Sklavenfang in Afrika, auf Plantagen in der Karibik und in den nordamerikanischen Südstaaten und auf Manufakturen in Europa und den amerikanischen Nordstaaten.
Um gut zu funktionieren, brauchte die neue Wirtschaft neuartige Staaten, die eine Spezialisierung erleichterten. Westafrika erlebte den Aufstieg mächtiger Könige, die Karibik und der amerikanische Süden die Entstehung von Plantagenoligarchien, und in Nordwesteuropa und dem amerikanischen Nordosten stellten Wirtschaftseliten die absolutistischen Monarchen in Frage. Jeder Wandel führte zu Konflikten. Afrikaner überfielen ihre Nachbarn, um Sklaven zu entführen, Siedler in Amerika bedrängten die Ureinwohner, um ihnen ihr Land abzunehmen, und Europäer enterten und versenkten gegenseitig ihre Schiffe, um sich Handelswege zu sichern.
Überall, wo die neue Atlantikökonomie hinreichte, wurden alle festen, erstarrten Beziehungen hinweggefegt. In Westeuropa machte billige Schiffsfracht der breiten Bevölkerung eine Welt kleiner Luxusgüter zugänglich. Im 18. Jahrhundert konnte ein Mann, der ein bisschen Geld in der Tasche hatte, damit mehr kaufen als bloß einen weiteren Laib Brot: Er konnte wundersame Drogen – Tee, Kaffee, Tabak, Zucker – aus fernen Kontinenten erstehen oder Wunderwerke heimischer Produktion wie Tonpfeifen, Regenschirme und Zeitungen. Und dieselbe Atlantikökonomie, die diese Fülle lieferte, sorgte auch dafür, dass Leute bereit waren, Menschen das nötige Geld zu verschaffen. Denn da Kaufleute jeden Hut, jedes Gewehr und jede Decke kauften, die sie bekommen konnten, um sie nach Afrika oder Amerika zu bringen, waren Manufakturbesitzer
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