Krieg – Wozu er gut ist
auf die Elias verweist, waren seit langem schon für jeden zu sehen. Wie viele andere auch bin ich selbst sogar über den einen oder anderen gestolpert, als ich mich 1974 an der Highschool im Englischunterricht zur Beschäftigung mit Shakespeare gezwungen sah. Was mir auffiel, war mitnichten die Schönheit der Sprache des »Barden«, sondern wie empfindlich seine Charaktere durch die Bank waren. Beim geringsten Anlass schwoll ihnen der Kamm, und im nächsten Augenblick stachen sie aufeinander ein. Selbstverständlich gab es solche Leute auch im England der 1970er Jahre,aber die landeten größtenteils im Gefängnis – ganz im Gegenteil zu Shakespeares Raufbolden, die eher dafür gelobt als getadelt wurden, erst zuzustechen und dann Fragen zu stellen.
Sollte es tatsächlich möglich sein, dass unsere Welt friedfertiger ist, als es die vergangenen Jahrhunderte waren? Das, wie Shakespeare sagte, ist die Frage, und Elias’ Antwort darauf lautet, dass selbst in den 1590er Jahren, als Shakespeare Romeo und Julia schrieb, seine mordlustigen Montagues und Capulets bereits Anachronismen gewesen seien. Zurückhaltung ersetzte die Raserei als die Emotion, die den Ehrenmann definiert.
Es ist dies die Art These, die Schlagzeilen hätte machen sollen, aber Timing – wie Verleger ihren Autoren gern sagen – ist alles. Und Elias’ Timing war schlicht tragisch. Über den Prozess der Zivilisation erschien 1939, dem Jahr, in dem die Europäer zu einer sechsjährigen Gewaltorgie anhoben, die über fünfzig Millionen von ihnen das Leben kostete (darunter Elias’ eigene Mutter, die in Auschwitz umkam). Und 1945 herrschte nicht die richtige Stimmung für die These, Europa sei zivilisierter und friedfertiger denn je.
Bestätigt sah Elias sich denn erst in den 1980er Jahren, als er längst im Ruhestand war. Zu dem Zeitpunkt hatten Sozialhistoriker nach Jahrzehnten mühsamer Forschung in staubigen Gerichtsarchiven Statistiken zusammengestellt, die Elias recht geben. Um 1250 durfte einer von hundert Westeuropäern damit rechnen, ermordet zu werden; zu Shakespeares Zeit war es nur noch einer in dreihundert und 1950 einer in dreitausend. Und es waren, wie Elias betonte, die oberen Schichten, die den Weg wiesen, was das friedfertige Miteinander anging. *3
In den 1990er Jahren schürzte sich der Knoten weiter. In seinem Werk War Before Civilization , das auf seine Art nicht weniger bemerkenswert ist als das von Elias, führt der Anthropologe Lawrence Keeley reihenweise Statistiken zum Beweis dafür an, dass die im 20. Jahrhundert noch verbliebenen Steinzeitgesellschaften in schockierendem Maße gewalttätig waren. Fehden und Raubzüge kosteten einem von zehn oder gar einem von fünf Menschen das Leben. Wenn Keeley recht hätte, hieße das, Steinzeitgesellschaften waren zehn- bzw. zwanzigmal so gewalttätig wie das gewiss turbulente europäische Mittelalter und 300- bzw. 600-mal so übel wie Europa in der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Es ist schwierig, die Sterblichkeit durch Gewalteinwirkung in prähistorischen Steinzeitgesellschaften zu beziffern, aber als Keeley sich die Belege für Mord, Massaker und allgemeine Gewalt der Vorzeit ansah, nahmen unsere frühen Vorfahren sich mindestens ebenso gewalttätig aus wie die von Anthropologen beschriebenen Gruppen ihrer eigenen Zeit. Das stumme Zeugnis steinerner Pfeilspitzen zwischen Rippenknochen, durch stumpfe Gewalt zertrümmerter Schädel und üppiger Waffenbeigaben in Gräbern weist den Zivilisationsprozess als noch langwieriger und langsamer aus, als selbst Elias erkannt hatte.
Noch nicht einmal die Weltkriege, so erkannte Keeley, hatten das 20. Jahrhundert so gefährlich gemacht wie die Steinzeit, und ein drittes Lebenswerk wissenschaftlicher Forschung hat sein Argument nun bestätigt. Gestalt anzunehmen begann dieses 1960 mit der Veröffentlichung eines weiteren bemerkenswerten (wenn auch schier unlesbaren) Buchs Statistics of Deadly Quarrels von Lewis Fry Richardson, einem exzentrischen Mathematiker, Pazifisten und Meteorologen (Letzteres, bis ihm klar wurde, wie sehr er damit der Luftwaffe half).
Richardson verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens mit der Suche nach statistischen Mustern hinter dem augenscheinlichen Chaos des Tötens. Anhand eines Korpus von dreihundert zwischen 1820 und 1949 geführten Kriegen, darunter Blutbäder wie der Amerikanische Bürgerkrieg, Europas Kolonialfeldzüge und die beiden Weltkriege, stellte er – zu seiner offenkundigen Überraschung
Weitere Kostenlose Bücher