Krieg – Wozu er gut ist
– fest: »Die Verluste an Menschenleben bei Streitigkeiten mit tödlichem Ausgang in der Größenordnung vom Mord bis zum Weltkrieg machten in diesem Zeitraum etwa 1,6 Prozent aller Todesfälle aus.« 7 Selbst wenn wir also die Kriege der modernen Welt mit ihrer Mordrate aufaddieren, sieht es ganz so aus, als sei zwischen 1820 und 1949 nur eine von 62,5 Personen eines gewaltsamen Todes gestorben – etwa ein Zehntel der Rate bei den Jägern und Sammlern der Steinzeit.
Und das ist noch nicht alles. »Die Zunahme der Weltbevölkerung zwischen 1820 und 1949«, so stellte Richardson fest, »wird allem Anschein nach nicht von einer entsprechenden Zunahme sowohl der Häufigkeit von Kriegen als auch der durch sie verursachten Verluste an Leben begleitet, wie man hätte annehmen müssen, wäre die Kriegslust konstant geblieben.« Was impliziert, dass die »Menschheit seit 1820 n. Chr. weniger kriegerisch geworden« ist. 8
Über fünfzig Jahre nach Richardsons Buch hat sich der Aufbau von Datenbanken über den Tod zu einer kleinen akademischen Industrie ausgewachsen. Die neuen Versionen sind sowohl ausgeklügelter als Richardsons als auch ehrgeiziger; sie reichen zurück bis 1500 und über 2000 hinaus. Wie alle akademischen Industrien wimmelt es auch in dieser von Kontroversen, und selbst beim bestdokumentierten Krieg der Geschichte, der Besetzung Afghanistans unter Amerikas Führung seit 2001, gibt es zahlreiche Zählweisen, wie viele Menschen nun tatsächlich dabei umgekommen sind. Aber bei all diesen Problemen bleiben die wesentlichen Erkenntnisse von Richardsons Arbeit unangetastet. Die Zahl der Menschen, die getötet wurden, ist gestiegen, aber die Bevölkerung ist weit schneller gewachsen. Das Ergebnis davon ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass einer von uns eines gewaltsamen Todes sterben wird, ist um eine Größenordnung gesunken.
Seinen Schlussstein erhielt das neue Denkgebäude im Jahr 2006 mit der Veröffentlichung von Azar Gats monumentalem Werk War in Human Civilisation . Aus einer erstaunlichen Bandbreite an Forschungsgebieten (und, so ist anzunehmen, vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung als Major bei den israelischen Streitkräften) trug Gat neue Erkenntnisse zu einer faszinierenden Gesamtschau zusammen, die dokumentiert, wie die Menschheit im Laufe der Jahrtausende ihre Gewalttätigkeit gezähmt hat. Niemand kann heute ernsthaft über Krieg nachdenken, ohne sich mit Gats Überlegungen zu befassen, und alle, die sein Buch gelesen haben, werden seinen Einfluss auf jeder Seite meines eigenen Buchs spüren.
Bei der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg hat sich ein intellektueller Gezeitenwechsel vollzogen. Nur eine Generation vor der unseren war die Hypothese abnehmender Gewalt lediglich die wilde Spekulation eines alternden Soziologen, die noch nicht einmal von Shakespeare verwirrte Schulkinder zu interessieren brauchte. Heute erfährt sie so breiten Rückhalt, dass die Wissenschaft ihr ganze Bücher widmet. Im Oktober 2011, als ich die erste Version dieser Einleitung schrieb, erschienen innerhalb eines Monats gleich zwei große Werke über den Rückgang der Gewalt: Winning the War on War des Politwissenschaftlers Joshua Goldstein und Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit des Psychologen Steven Pinker. Ein Jahr später widmete der weit über seinen akademischen Tellerrand hinaus blickende Evolutionsbiologe Jared Diamond den größten Abschnitt seines Buches Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können demselben Thema. Der Krieg der Argumente tobt weiter, aber imKernpunkt – dass die Sterblichkeit durch Gewalteinwirkung zurückgegangen sei – geht man zunehmend konform.
Das heißt, bis wir uns fragen, weshalb die Gewalt zurückgegangen ist.
Leviathan
Bei dieser Frage sind die Gräben tief, die Debatten hitzig und sehr, sehr alt. Genau genommen gehen sie zurück in die 1640er Jahre, in denen die meisten Menschen den Eindruck hatten, dass die Gewalt im Zu- und nicht im Abnehmen begriffen war. Der Blutzoll dieser Dekade in Europa und Asien war es, der den Philosophen Thomas Hobbes dazu veranlasste, die Kardinalfrage zu stellen. Hobbes selbst war aus England nach Paris geflohen, als klar wurde, dass seine Heimat mit Riesenschritten auf den Bürgerkrieg zueilte, und das folgende Gemetzel, dem 100 000 seiner Landsleute zum Opfer fielen, brachte ihn zu einer wichtigen Überzeugung: Sich selbst überlassen, wird der Mensch vor nichts – auch nicht vor
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