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Krieg – Wozu er gut ist

Krieg – Wozu er gut ist

Titel: Krieg – Wozu er gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Zuletzt brachen die Dächer vollends ein, stürzten auf die Toten und begruben sie. Dann herrschte Stille.« 20
    Diese Art von Überfällen kam den Steinzeitgesellschaften sehr entgegen. Ihre relativ egalitäre Lebensart implizierte, dass niemand die Art strenger Disziplin hätte durchsetzen können, die etwa die spartanischen Hopliten zum Ausharren veranlasste, während die Perser Pfeile über sie regnen ließen; aber bei einem Überfall brauchte sich niemand solchen Gefahren auszusetzen. Bis zum letzten Augenblick konnten Angreifer davonlaufen, falls sie sich entdeckt sahen. Es bestand so gut wie kein Risiko, außer dass man mit einiger Sicherheit davon ausgehen konnte, dass die überfallene Siedlung den Überfall erwidern würde – sofern die Angreifer nicht alle Bewohner umgebracht hatten.
    Diese gegenseitigen Überfälle waren größtenteils auch für die erschreckenden Raten gewaltsamen Todes in modernen Steinzeitgesellschaften verantwortlich, und die archäologischen Evidenzen aus vorgeschichtlicher Zeit scheinen sich mit diesem Muster zu decken. Unter den Yanomami des 20. Jahrhunderts und in weiten Gebieten des neuguineischen Hochlands zum Beispiel nahmen diese Überfälle derart überhand, dass mehrere Kilometer breite Streifen Niemandsland als Pufferzonen entstanden, die buchstäblich zu gefährlich waren, um dort leben zu können. Einmal mehr erfüllt sich hier die Bibelweisheit, laut der unter der Sonne nichts Neues passiert: Caesar berichtet über eben diese Praxis im vorrömischen Gallien,Tacitus hat sie bei den Germanen gesehen, und für die vorgeschichtliche Zeit haben Archäologen sie in Nordamerika und Europa dokumentiert.
    Diese Pufferstrategie funktionierte ganz offensichtlich, lief aber auf eine ausgesprochene Verschwendung hinaus, und die Menschen mussten schon sehr früh erkannt haben, dass es dazu eine Alternative gab. Anstatt all das gute Land einfach aufzugeben, konnte man eine Mauer bauen, die groß genug war, um dem Feind den Zugang zu seinem Dorf zu verwehren. Das Problem damit war freilich, dass der Bau einer solchen Festung Disziplin und Logistik erforderte – eben genau das, worin die Steinzeitgesellschaften am schwächsten waren. Schlimmer noch, wenn Dorf A sich genügend zu organisieren vermochte, um einen Wall zu bauen, so bestand die hohe Wahrscheinlichkeit, dass Dorf B Disziplin und Logistik für eine massive Belagerung aufbrachte.
    Es gibt eine beliebte Szene in Lewis Carrolls Alice im Spiegelland , in der Alice und die Rote Königin wie verrückt querfeldein jagen. Sie laufen und laufen, »dass sie zuletzt durch die Luft zu fliegen schienen« 21 , bis Alice feststellen muss, dass sie sich immer noch unter demselben Baum befinden, von dem aus sie losgelaufen waren. »In unserem Lande«, lässt Alice die Königin ärgerlich wissen, »würde man, wenn man so lange und so schnell liefe, wie wir jetzt gelaufen sind, irgendwo anders hinkommen.« Erstaunt erklärt ihr die Königin, dass das ein sehr langsames Land sein müsse: »Hier musst du laufen, so schnell du kannst, um nur auf demselben Platz zu bleiben.«
    Biologen greifen gern auf dieses Bild zurück und sprechen vom Rote-Königin-Effekt, wenn sie Phänomene des koevolutionären »Wettrüstens« untersuchen. Wenn Füchse sich dahingehend entwickeln, schneller zu laufen, um mehr Kaninchen zu erwischen, dann werden nur die schnellsten Kaninchen lange genug leben, um sich fortzupflanzen; und sie werden eine neue Generation von Langohren hervorbringen, die noch schneller ist. Worauf natürlich wieder nur die schnellsten Füchse genügend Karnickel erwischen, um sich fortzupflanzen und ihre Gene weiterzugeben. Die beiden Spezies können laufen, was sie wollen, und treten doch nur auf der Stelle.
    Während des Kalten Kriegs, als amerikanische und sowjetische Wissenschaftler immer beängstigendere Massenvernichtungswaffen entwickelten, weitete man diesen Rote-Königin-Effekt zu einer Metapher für den Wahnsinn des Krieges aus. Kein Mensch kommt damit auch nur einen Schritt weiter, argumentierten die Kritiker des Wettrüstens, aber alle stehen amEnde ärmer da. Ich habe dazu mehr in den Kapiteln 5 und 6 zu sagen und begnüge mich für den Augenblick mit dem Offensichtlichen: Anzeichen für einen vorgeschichtlichen Rote-Königin-Effekt sind unschwer zu sehen. Das Aufkommen von Befestigungsanlagen ist ein augenfälliges Beispiel. Wann genau es dazu kam, ist umstritten. Schon um 9300 v.   Chr. errichteten die Bewohner von Jericho im

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