Krieger der Stille
mitten im Wald auf den Ästen eines Riesenbaums errichtet. Sie war von allen Seiten von dichtem Laubwerk umgeben, das ein verworrenes grünbraunes Geflecht bildete. Von der Terrasse aus konnte man über eine Hängebrücke zum nächsten, etwa dreißig Meter entfernten Riesenbaum gelangen. Dann verlor sich die Brücke im dichten Grün. Die mächtigen Baumstämme unter ihm standen im Wasser, das sich, so weit er auch blickte, in alle Richtungen ausdehnte. Auf dem Wasser fuhren kleine Boote und Einbäume und auch aus Knochen und Häuten der Echsen gefertigte Kajaks. Zwischen ihnen schwammen die Reptilien ruhig dahin, ohne sich um die Sadumbas in ihren zerbrechlichen Nussschalen zu kümmern.
Tixu deutete auf die Echsen. »Sie … sie greifen nicht an?«
»Du hast nichts begriffen!«, antwortete Kacho Marum. »Die Hüter des Flusses greifen nur jene an, die es nicht verdient haben zu leben. Wenn jemand aus meinem Volk ins Wasser fällt, weiß er, dass allein die Echsen darüber entscheiden, ob er das kostbare Gut des Lebens behält. – Der Wald ist schön, nicht wahr?«
»Wunderschön!«, stimmte Tixu aufrichtig zu.
Die mächtigen, gerade gewachsenen Baumstämme spiegelten sich auf dem glatten grauen Wasser wider, wie majestätische Säulen eines Tempels im Glanz eines Marmorbodens.
Und unter dem gewölbten grünen Laubdach mit seinen viel verzweigten Hängebrücken herrschte eine geradezu magische Atmosphäre.
Tixus Seele verschmolz mit diesem himmlischen Licht, einem Licht, das das harmonische Gleichgewicht uralter Zeiten ausstrahlte. Und so ließ er sich rückhaltlos von der betörenden, friedlichen Stille des Tiefen Waldes verzaubern.
In diesem Moment erschien ihm das Gesicht der Syracuserin. Ganz deutlich konnte er ihr Antlitz sehen, wie von innen erleuchtet. Kein Laut kam über ihre weiß umrandeten sinnlichen Lippen, aber er wusste, dass sie ihn rief. Sie sprach direkt zu seiner Seele. Und er spürte, dass sie verzweifelt war und ihn anflehte. Er vernahm ihre Hilferufe, dann Rufe und Schreie von anderen. Und bald hatte er das Gefühl, dass die ganzen Schreie seinen Körper wie ein hohles Gefäß erfüllten. Er versteifte sich und wollte diesem Ansturm Einhalt gebieten. Er schüttelte den Kopf und presste seine Hände auf die Ohren, um diesen unerträglichen Lärm zum Schweigen zu bringen. Völlig umsonst. Das ganze Universum schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Und das wütende Geschrei verwandelte sich in verletzende Beleidigungen, die ebenso schmerzten, wie die Stiche blutsaugender Insekten.
Dann hörte er über dem ganzen Stimmenwirrwarr eine tiefe Stimme, die in einem monotonen Sprechgesang ständig wiederholte: » Dein Schicksal … Du musst dein Schicksal erfüllen … Dein Schicksal … Du musst dein Schicksal erfüllen … Dein Schicksal …«
Ganz plötzlich trat wieder Stille ein. Und wieder herrschte nichts als Frieden in dem wie verzauberten Wald. Tixu
drehte sich nach Kacho Marum um, der seinen Gast mit unverhohlener Neugier betrachtete.
»Ich muss euch verlassen«, sagte der Oranger ruhig, aber bestimmt. »Ich muss euch sofort verlassen.«
»Der Wald hat dir eine Botschaft geschickt«, erklärte der Ima. »Luhaïm, der Gott des Waldes, wird dir helfen. Die Welten da draußen stehen am Rand des Abgrunds. Wenn du dein Schicksal nicht erfüllst, wird bald nie wieder ein zweibeiniges Geschöpf das Geschenk des Lebens erhalten.«
»Kann ich meine Kleidung haben?«
»Sie liegt für dich bereit. Aber vorher musst du noch vom inneren Wasser der Echse trinken, um deine Gesundheit zu stärken. Du bist doppelt gesegnet, junger Gast. Denn du stehst nicht nur unter dem Schutz der Großen Echse, sondern auch unter dem des Waldgottes.«
»Wie … wie kann ich euch nur eines Tages danken?«, stotterte Tixu, denn in diesem Augenblick war ihm bewusst geworden, welche Würde und Seelengröße sein Gastgeber besaß. Und er liebte und achtete ihn dafür rückhaltlos.
»Schon wieder? Du scheinst einfach nicht zu verstehen!«, sagte Kacho Marum. »Aber wenn du mir schon danken willst, dann tue, was du tun musst; und ich weiß es zu schätzen. Doch diesen Dank reiche ich an jene weiter, denen er gebührt. An meine Freunde, die Echsen des Flusses Agripam.«
Dann ging der sadumbische Ima in sein Baumhaus zurück, wo er von seinen Kindern mit einem fröhlichen Lachen begrüßt wurde. Tixu folgte ihm schnell. Er hatte es eilig. Denn die Syracuserin schwebte in Lebensgefahr auf dem Planeten
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