Krieger der Stille
Und als sie durch die fast verlassenen Straßen ging, hatte sie den Eindruck gehabt, dass die wenigen Passanten sie mit Blicken durchbohrten, ihr Innerstes erkennen konnten und ihre Seele raubten – ein Zustand, der ihr psychisches Potenzial beträchtlich schwächte.
Denn als sie schließlich Sri Mitsus Haus lokalisiert hatte, war es ihr nur unter größter Anstrengung gelungen,
mentalen Kontakt zu dem alten Freund ihres Vaters herzustellen. Doch der ehemalige Smella hatte sofort jede Kommunikation unterbrochen. Daraufhin hatte sie die Gedanken des jungen Prougen und die der Pritiv-Mörder abgefangen und begriffen, dass der alte Mann ständig von einem scaythischen Gedankenleser überwacht wurde.
Da Aphykit die Techniken des Gedankenschutzes nur schlecht beherrschte, hatte sie keinen Weg gefunden, nochmals mit Sri Mitsu in Kontakt zu treten und nur erraten können, dass der alte Mann in seiner an Maranas übermittelten Botschaft von dem dritten Großmeister gesprochen hatte.
»Bleib da, Godappi-Dame!«, unterbrach Kirah Aphykits Gedanken. »Hier bist du in Sicherheit. Ich hole jetzt Maranas’ Mutter, Panapii.«
Der Junge ging, und die junge Frau ließ sich auf eins der Kissen sinken. Das psychische Band, das sie mit ihrem Vater verbunden hatte, war durchtrennt, und sie wusste – auch wenn sie es sich noch nicht eingestand –, dass es für immer abgeschnitten war. Sri Alexu war in seinem Haus geblieben, um die Scaythen abzulenken und seiner Tochter die Flucht zu ermöglichen. Er hatte sich für sie geopfert.
Von nun an würde sie allein sein, allein mit ihrem Kummer; allein mit ihren Tränen, die sie nur mühsam unterdrückte; allein mit ihren lächerlichen Bemühungen, ihre Gefühle zu kontrollieren; allein mit ihrem Wunsch, wieder die kleine geliebte Tochter zu sein.
Eine Reihe unzusammenhängender Bilder tauchte vor ihrem inneren Auge auf: Syracusa, die bläulichen Strahlen der Saphyr-Sonne, das edle Gesicht ihres Vaters, der Planet Zwei-Jahreszeiten, der Regen, das verblüffte und
gleichzeitig betroffene Gesicht des Reisebüroangestellten, die Ruine, die widerlichen Gesichter der Vagabunde, ihr nackter Körper, Maranas’ Wunde, die Kinder, die Staubwolke, ihre Flucht in Matana, die Hitze, das Blut …, die Hitze …
Um sie herum begann alles zu schwanken, sich zu drehen, die Gesichter, die Formen, die Farben, schneller, immer schneller …
Aphykit verlor das Bewusstsein.
Eine knarrende Stimme weckte Aphykit. Sie lag auf einer Baumwollmatratze in einem Zimmer mit leuchtend bunten Wandbehängen. Die alte Inonii beugte sich über sie und hielt ihr einen irdenen Teller hin, von dem ein würziger Duft aufstieg. Kirah der Schlaue lehnte mit verschränkten Armen an einer Wand. Sein rundes Gesicht wirkte ernst.
»Iss jetzt, Godappi-Dame!«, sagte der kleine Prouge. »Du bist am Ende deiner Kräfte.«
Inonii stellte den Teller neben die Matratze.
»Maranas stirbt«, fuhr Kirah mit monotoner Stimme fort. »Das Leben fließt mit seinem Blut aus ihm. Die Tötungsscheiben dieser Pritiv-Dreckskerle haben ganze Arbeit geleistet.«
Zu Aphyktis Erleichterung ging die Alte aus dem Zimmer. Der Anblick des ausgezehrten, knochigen Körpers der Prougin löste einen ständigen Brechreiz in ihr aus.
»Iss!«, befahl Kirah. »Das ist das traditionelle Gericht der Prougen, es besteht aus Schafskutteln mit Kräutern und scharfen Gewürzen. Ein Gericht vom Fleisch unseres heiligen Tiers. Die ideale Speise, um neue Kraft zu gewinnen.«
Erst jetzt merkte Aphykit, dass sie seit zwei Standardtagen
nichts mehr gegessen hatte und dass ihr leerer Magen sich nachdrücklich bemerkbar machte. Weil sie keinerlei Besteck neben dem Teller entdeckte, nicht einmal eine altmodische Gabel oder einen Löffel, warf sie dem Jungen einen fragenden Blick zu.
»Wir essen mit den Fingern«, beantwortete Kirah ihre unausgesprochene Frage.
Also richtete sich Aphykit auf und tauchte ihre Finger in den undefinierbaren Brei. Allein die Berührung mit dieser öligen heißen Substanz löste Ekel in ihr aus.
Jetzt bin ich eine Paritole geworden, dachte sie erbittert. Jetzt bin ich genauso gewöhnlich und animalisch wie einer der Halbmenschen vom Planeten Getablan geworden. Ich trage Lumpen und esse mit den Händen. Vater, werde ich Euch nie wiedersehen?
Zum ersten Mal gestand sie sich den Tod ihres Vaters ein. Bis dahin war sein Ableben eher ein flüchtiger Gedanke gewesen, ein Ereignis, dessen Realität sie nicht akzeptiert hatte. Doch
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