Kriegerseelen
sie taten es immer und ausnahmslos. Persönliche Belange hatten nie eine Rolle gespielt, aber wenn Prokojev nun einen von ihnen auf der Abschussliste hatte, sah die Sache anders aus.
Val strich sich das halblange dunkelblonde Haar aus der Stirn. »Scheiße«, erneut fluchte er. »Wohin haben sie Eve gebracht?«
Jay rieb mit der Faust über seine Brust und sah irgendwie abwesend aus. Vals fragender Blick ließ Tyron mit den Schultern zucken, bevor er antwortete. »Sie ist im Bunker untergebracht. Die Hinrichtung soll bereits morgen früh stattfinden. Vielleicht hofft der Boss, dass Juno auftaucht, um ihre Mutter zu retten.«
Der Halbasiate, dessen Gesichtsausdruck inzwischen gequält aussah, hatte immer noch kein Wort gesprochen. Valentin stieß ihn an. »He Mann, was ist los?«
Jay sah irgendwie erschrocken aus und stammelte verwirrt. »Was? Sorry, ich habe keine Ahnung, was mit mir los ist. Mein Tattoo macht sich irgendwie bemerkbar ...«
Verständnislos sahen sich seine beiden Kameraden an.
»Dein Tattoo ...?«, fragten Tyron und Valentin wie aus einem Mund.
»Ja, ich habe das Gefühl, es bewegt sich.« Jay rieb heftiger über seine linke Seite. Er trug dort das Abbild eines Adlers in seine Haut tätowiert. »Es fühlt sich an, als würde der Adler heraus wollen.« Die Männer waren sprachlos. Ihr Kumpel war eigentlich kein durchgeknallter Typ, im Gegenteil. Jay war die Disziplin in Person. Seine asiatischen Vorfahren hatten ihm außer dem Talent in der Kampfkunst, vor allem Selbstbeherrschung und Kalkül vererbt. Er war immer derjenige, der am sorgfältigsten plante und absolut geradlinig war. Gerade deshalb machten sich die Jungs Sorgen um Jay. Es passte so gar nicht zu ihm.
Als er schließlich auch noch an seinem T-Shirt riss, um es sich über den Kopf zu ziehen, versuchte Valentin, ihn daran zu hindern. Jay schüttelte die Hand seines Freundes ab, und als er es endlich von seinem Körper gezerrt hatte, bekamen Tyron und Val große Augen.
Die muskulöse glatte Brust des Kriegers zierte ein Adler. Das war nicht ungewöhnlich, denn sie alle hatten einander schon mehrmals nackt gesehen. Doch das Tattoo schien tatsächlich lebendig zu werden. Teile des Raubvogels erhoben sich und bewegten sich wild und unablässig. Als würde unter der Haut ein leibhaftiges Tier stecken, das sich aus seinem Gefängnis zu befreien versuchte. Fassungslos sahen die Männer, wie der Adler sich wandte und drehte. Jay schien Schmerzen zu haben. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als er die Zähne zusammenbiss und er war blass geworden.
Als Vals Ohr-Komm rauschte und Prokojev hineinbrüllte, hätte er es am liebsten abgeschaltet. Er wandte sich von dem Schauspiel ab, das sein Waffenbruder bot, um sich darauf konzentrieren zu können, was der Boss ihm erzählte. Als er jedoch den schrillen Schrei eines Adler hörte, blickte er nach oben und bekam gerade noch mit, wie der majestätische Vogel sich in den Himmel erhob. Jay und Tyron sahen dem Tier ebenfalls hinterher und ein kurzer Blick auf Jays Brust verschlug sogar dem unerschrockenen Val die Sprache. Die Tätowierung war verschwunden.
Nur noch mit halber Konzentration bekam er am Rande mit, wie der Boss ihn zu sich befahl. Als die Verbindung abbrach, hatte Jay seine Sprache wieder gefunden. »Ich habe euch doch gesagt, es macht sich selbstständig.«
Während der riesige Greifvogel seine Kreise zog, überlegte Valentin, was als Nächstes zu tun war.
Prokojev hatte angeordnet, die Hinrichtung vorzubereiten. Außerdem sollten alle antreten. »Verdammt. Was machen wir jetzt. Er weiß noch gar nicht, dass Tristan verschwunden ist. Wie zur Hölle sollen wir das erklären?«
Es war zum verrückt werden. Jays Tattoo erwachte zum Leben, Tristan und Juno waren wie vom Erdboden verschluckt und Eve sollte morgen einen qualvollen Tod sterben, bei dem alle Bewohner zusehen mussten.
Jay, dessen völlig blanke Brust einen ungewöhnlichen Anblick bot, verfolgte mit den Augen seinen Adler. Als er intuitiv einen kurzen Pfiff ausstieß, drehte das Tier ab und bewegte sich in rasender Geschwindigkeit, im Sturzflug auf die Männer zu. Ohne das Tempo zu verringern, stieß er gegen die Brust des Kriegers und innerhalb von Sekunden verband er sich mit ihm und war nun wieder als gewöhnliche Tätowierung zu sehen. Der Krieger ruckte, als der Adler auftraf. Ein Zittern durchlief ihn und dann stand er wieder ruhig da. »Habt ihr das gesehen? Ich habe ihn zurückgerufen.« Jays Augen glänzten und er
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