Kriegsenkel
Andererseits muss ich mich immer noch vor ihr schützen. Wenn ich sie treffe, muss ich alle Antennen ausfahren.«
Nachdem Monika Eichberg ausgezogen war, erlebte Marcus, der Jüngste, einen Entwicklungsschub. Innerhalb eines Jahres wuchs er 20 Zentimeter. Das ist jetzt drei Jahre her. Marcus steht heute kurz vor dem Abitur. Seine Mutter freut sich sehr auf die Feier. Wieder einmal wird sie mit der ganzen Familie zusammen sein – so wie sie jeden Geburtstag und jedes Weihnachtsfest zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern in dem Haus verbringt, das einmal auch ihr Zuhause war.
Der letzte Schritt in die Freiheit
Wenn der Jüngste flügge ist, versichert sie, dann habe sie ihre Pflicht getan. Dann werde sie mit dem Vater ihrer Kinder über die Scheidung sprechen. Zu ihren Fähigkeiten im Beruf, sagt sie nicht ohne Stolz, gehöre das Herstellen von Struktur und Ordnung, vor allem aber von Transparenz. Das brauche sie auch im Privatleben, andernfalls würde sie sich – wie in ihrem früheren Leben – im Nebel verlieren. »Wenn mein Jüngster sein Abitur in der Tasche hat und ausgezogen ist, dann war’s das. Dann ist Schicht.«
Sie steht unvermittelt auf und geht in die Küche, während sie noch schnell einen Satz über die Schulter wirft, dem Sinne nach: »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Als sie wieder auftaucht, trägt sie ein Tablett mit einer bunten Auswahl köstlichster italienischer Törtchen. Genießerisch langt sie zu. Kein Lamento der Art, sie dürfe ja eigentlich nicht, sie müsse abnehmen. Dann fällt ihr etwas ein, was sie mir unbedingt erzählen möchte. Sie sei immer davon ausgegangen, sie habe in ihrer Ehe guten Sex gehabt, und das habe für die damaligen Verhältnisse [87] auch gestimmt. Heute aber wisse sie: Ihre Weiblichkeit sei nicht wirklich entwickelt gewesen. »Man kann auch sagen: Sie war verschüttet«, stellt sie fest. »Meine Mutter konnte mir keine gute weibliche Identität vermitteln, und diesen Mangel habe ich auch wahrgenommen, auch wenn ich dafür keine Worte hatte. Also war da immer eine Sehnsucht«.
Ihr äußerlicher Befreiungsprozess ging Hand in Hand mit einem persönlichen Entwicklungsprozess und der schloss das Wachsen einer starken weiblichen Identität mit ein. Die erlebe sie nun im Zusammensein mit ihrem neuen Freund. »Dieser Mann ist das Beste, was mir passieren konnte.« Sie sucht nach Worten des Vergleichs, um zu beschreiben, wie ihre Emanzipation ihre Sinnlichkeit gesteigert habe. »Wie soll ich das erklären? Vielleicht so: Wenn man die ganze Zeit nur trocken Brot bekommt und nicht weiß, dass es Kuchen und Torte gibt, dann hält man trocken Brot für gutes Essen. – Meine Güte!«, unterbricht sie sich lachend. »Das ist ja schon wieder so ein Bild von Krieg und Not! Es steckt doch alles tiefer, als man glaubt.« Mit Mitte vierzig hat sie erfahren, wie Torte schmeckt – eine Belohnung dafür, dass sie, wie sie es nennt, in die »kriegskinderfreie Zone« umgezogen ist.
[89] Fünftes Kapitel
DIE SPÄTZÜNDERIN
[91] Ein Dauerproblem
Wenn Andrea Vetter* mit ihren Freundinnen zusammensitzt, kommt in kürzester Zeit ihr großes gemeinsames Thema auf den Tisch, das Problem mit den Eltern. Seit sie denken können, waren die Beziehungen zu Mutter und Vater schwierig, und heute, als Frauen von Mitte Vierzig, sind sie kaum einen Schritt weiter. Dabei haben sie andere konfliktreiche Gebiete durchaus erfolgreich beackert. Andrea Vetter meint: »Krisen im Beruf, in der Ehe, dann die Scheidung etc., das ist alles schlimm, aber irgendwann hat man es hinter sich. Nur mit den Eltern bleibt es schrecklich.« Den Freundinnen graut davor, was sein wird, wenn die Eltern einmal alt sind und die Unterstützung ihrer Töchter brauchen.
Andrea Vetter, geschieden und Mutter einer achtjährigen Tochter, hatte mir gesagt, die beste Zeit für ein Gespräch sei der späte Abend, wenn Sarah* schon schlafe. Ich warte im Wohnzimmer, während sie noch einmal nach ihrer Tochter schaut. Zwei Wände sind von Bücherregalen komplett ausgefüllt. Vor allem interessiert sich Andrea Vetter für Literatur. »Ja, ich lese viel«, bestätigt sie, »ich muss ja wegen Sarah abends zu Hause bleiben. Da habe ich viel Zeit.«
Vor einigen Jahren, als viele Schulen auf Ganztagsbetrieb umstellten, hatte sich für sie die Chance zu einem Berufswechsel ergeben. Sie ließ eine ungeliebte Bürotätigkeit hinter sich und kümmert sich seitdem um Kinder und Jugendliche, die während der unterrichtsfreien Zeit
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