Kriegsenkel
beruflichen Niveau
Inzwischen ist Andrea Vetter ihrer Trotzphase längst entwachsen. Mit den Jahren hatte sich Entscheidendes verändert. Es wuchsen ihre geistigen Ansprüche, an sich selbst, an die beruflichen Inhalte, an ihre Kollegen, deren Niveau ihr nicht mehr genügte. Es war für sie frustrierend, mit Vorgesetzten zu tun zu haben, die dümmer waren als sie selbst. Und dann zog auch noch der Bruder an ihr vorbei und sie blieb als Spätzünderin zurück. Ihr Bruder hat alles aufgeholt, beruflich und privat, mit einer Spitzenposition in der Wirtschaft, mit Frau, Kind und Haus.
»Als ich mein Studium hinwarf«, stellt Andrea heute fest, »habe ich mir selbst ins Knie geschossen.« Jetzt ist sie dabei, das Versäumte nachzuholen und sich eine neue berufliche Existenz aufzubauen. Erste Schritte sind getan. Der Kontakt mit den Schulkindern gibt ihr viel. Aber sie will mehr. Sie will studieren und eine Qualifikation erwerben, von der sie sich eine interessantere pädagogische Arbeit verspricht. »Das hätte ich also alles leichter haben können«, räumt sie selbstkritisch ein.
Als Kind fürchtete Andrea ihre Mutter, die keine Widerworte duldete und mit Ohrfeigen erzog. Der Vater schlug seine Tochter nicht, er schützte sie aber auch nicht vor den Schlägen. Im Unterschied zu ihrem Bruder galt Andrea als das Kind, das stets Schwierigkeiten machte. Von klein auf hatte sie Essprobleme und musste oft brechen. Daraufhin wurde sie von der Mutter mit dem Erbrochenen gefüttert.
[95] Eine Generation danach hatte Tochter Sarah ebenfalls Essprobleme und zwar von Anfang an. Andrea, ihre Mutter, begriff: Ich werde verhindern, dass sich der alte Kampf fortsetzt. Sarah muss nicht essen, wenn sie nicht will. Sie muss nicht soviel essen, wie ich denke, es sei notwendig für sie.
Verblüffend schnell trat eine Wirkung ein. Das Verhältnis zwischen Mutter und Baby entspannte sich; das Kind aß, wenn es Hunger hatte, und wenn nicht, dann eben nicht. Dennoch war die Nahrungsmenge ausreichend. Von Essproblemen konnte keine Rede mehr sein – es sei denn, die Großeltern meinten, ihr Enkelkind sei zu dünn und sie müssten es vor dem Verhungern retten. Es gab einmal eine Zeit, da hoffte Andrea Vetter, durch die Ankunft eines Enkelkindes würde der Umgang zwischen ihr und ihrer Mutter erträglicher werden. Tatsächlich haben sich seitdem die Anlässe für Konflikte vermehrt. Das Thema Essen ist nur einer unter vielen Streitpunkten. Sarah isst kein Fleisch, woran sich die Großeltern absolut nicht gewöhnen können. Sie meinen es gewiss gut, wenn sie zu ihrer Tochter sagen: »Mach dem Kind doch mal eine Bratwurst«. Sie ahnen ja nicht, welche Panik ihre Aufforderung bei Andrea auszulösen vermag. Die ist in solchen Momenten außer sich, denn sie sieht ihre eigene Tochter bedroht – so wie sie sich selbst als Kind bedroht fühlte, wenn ihre Mutter das Essen in sie hineinzwang.
Mit siebzehn Jahren machte Andrea Vetter ihre erste Psychotherapie. Es ging ihr erbärmlich schlecht: Essstörung, Depressionen, Gedanken an Selbstmord. Seitdem ist für Luise Vetter klar: Andrea ist die Labile in der Familie. Während ihres Studiums gab es einen Zwischenfall. »Ich war bei meinen Eltern«, erzählt die Tochter. »Ich war nervlich am Ende. Und dann ist etwas passiert – was, weiß ich nicht.« Sie erinnert sich nur, dass sie im Bett aufwachte. Ihr wurde gesagt, der Notarzt habe sie mit einem Medikament ruhig gestellt. Einziger Kommentar der Mutter: »Nun reiß dich gefälligst zusammen!« Aus all dem [96] schließt Andrea Vetter, sie habe wohl die Mutter tätlich angegriffen. »Das wundert mich nicht. Noch heute würde ich ihr manchmal gern den Hals umdrehen.« Vor allem dann, wenn die Großmutter ihr achtjähriges Enkelkind mit Worten niedermacht. Die Einsicht, dass nicht nur Erwachsene sondern auch Kinder mit Respekt zu behandeln sind, ist Oma völlig fremd. Andrea Vetter beobachtet immer wieder, dass es keinerlei Verständnis gibt für die Tränen des Kindes, zum Beispiel wenn es gerade enttäuscht ist. »Also, wenn es in der Öffentlichkeit geschieht und Mutter den Eindruck hat, es gucken Leute hin, dann wird Sarah angeschnauzt – in einer Weise, wie ich selbst nie mit ihr reden würde: ›Mach hier nicht so ein Theater! Stell dich nicht so an!‹ Ohne Publikum ist die Reaktion eindeutig milder.«
Im Rahmen einer Therapie, sagt Andrea Vetter, habe sie verstanden, dass sie als Kind und Jugendliche emotional unterversorgt war. An dem
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