Kriegsenkel
ursprünglichen Muster habe sich bis heute nicht viel geändert. Im Grunde könne sie sich abstrampeln so viel sie wolle – für ihre Mutter sei sie nie gut genug. Zu ihrem 40. Geburtstag bekam Andrea von ihr einen Briefumschlag mit einem 10-Euro-Schein – der blanke Hohn, so empfand es die Tochter. Sie saß da, als hätte sie einen Schlag in den Magen erhalten. Der Gedanke, ihre Mutter zu fragen, was die Beleidigung solle oder sie vor die Tür zu setzen, kam ihr nicht.
Erst Streit – dann drei Tage Schweigen
Als sie der Mutter im schlimmsten Trennungsschmerz mitteilte, ihre Ehe sei gescheitert, schaute Luise Vetter ihre Tochter freudig an und sagte: »Na, das ist doch gut, da brauchst du die Pille nicht mehr zu nehmen.« Nicht nur die eigene Tochter war in Luises Augen nie gut genug. Auch der Schwiegersohn war es nicht, und der eigene Mann ist es genauso wenig. Andrea Vetter [97] sieht es so: »Für meine Mutter ist mein Vater ein Waschlappen. Bis heute können meine Eltern sich so grässlich streiten wie schon in meiner Kindheit.« Aber nie wurde irgendetwas geklärt. Nach jedem Streit wurde drei Tage geschwiegen. Dann kam der Vater mit einem Blumenstrauß. Danach herrschte eine Weile Ruhe, dann ging es wieder los. »Mutter ist hysterisch«, stellt ihre Tochter nüchtern fest. »Ich fand das als Kind nicht lustig, wenn sie dem Vater ein Glas Wein ins Gesicht kippte. Darum will ich nicht, dass sie vor Sarah streiten. Aber Mutter macht einfach weiter. Sie sagt: ›Da sieht das Kind mal, dass es in einer Ehe auch Konflikte gibt. So wie Sarah aufwächst, ist das doch unnormal‹.«
Mit einem solchen Satz wäre es Luise Vetter früher mühelos gelungen, ihre Tochter wieder klein zu machen. Um Schuldgefühle auszulösen genügte schon der Vorwurf: »Du bist egoistisch.« Es bedurfte nicht einmal einer Begründung. Seit einigen Jahren aber, sagt Andrea Vetter, habe sie mehr zu sich selbst gefunden und sie sei zufriedener geworden. Das heißt auch, sie kann sich etwas besser gegen die Pfeile ihrer Mutter schützen. Doch fehlt die Antwort auf zentrale Fragen: »Warum liebt meine Mutter mich nicht? Warum sind meine Eltern so egoistisch?«
Mir sind eine ganze Reihe ähnlich desolater Familiengeschichten bekannt. Ihr gemeinsamer Kern ist, dass ein Kind von einem Elternteil oder beiden Eltern völlig gefühllos behandelt wurde. Wenn wir im Fernsehen davon erfahren – meistens im Zusammenhang mit körperlicher Gewalt oder seelischer Grausamkeit – sind wir erschüttert, und wir gehen davon aus, dass die Eltern psychisch krank sein müssen. In der Psychiatrie hält man die entsprechenden Diagnosen bereit. Doch die Wahrnehmung der direkten Angehörigen, vor allem von Seiten der Kinder, ist häufig völlig anders. Selbst dann, wenn sie schon lange erwachsen sind, fällt es ihnen extrem schwer, sich innerlich von ihren Eltern zu lösen.
Solange Luise Vetter ihr Verhalten als »völlig normal« einstuft [98] und nie auf die Idee käme, sich von einem Arzt behandeln zu lassen, hilft es ihrer Tochter Andrea nicht wirklich weiter, wenn Experten sagen: Ihre Mutter ist krank. Rational könnte sie dem zustimmen, aber emotional nicht.
Spätestens hier ist die Frage zu stellen, wie normal denn die Verhältnisse waren, in denen Luise Vetter aufwuchs. Ein Blick in ihren Personalausweis wäre bereits aufschlussreich. Sie wurde 1941 in Breslau geboren. Ihre Tochter Andrea weiß nicht, wann genau die vierjährige Luise aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen wurde, wann die Flucht begann und wie viele Wochen oder Monate sie dauerte. Es wurde nur selten darüber gesprochen. Das übliche Schweigen in deutschen Familien steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu der Mühelosigkeit, mit der heutzutage Hintergrundinformationen im Internet erworben werden können. Es reicht das Eintippen der Stichworte »Breslau« und »1945«.
Die Stadt in Schlesien wurde im Januar 1945 von NS-Gauleiter Hanke offiziell zur Festung erklärt, die es zu verteidigen galt. Die Rote Armee hatte mit der Umzingelung von Breslau begonnen. Hanke wollte Platz schaffen für die »Entscheidungsschlacht«. Wer nicht mitkämpfen konnte, sollte die Stadt verlassen. Die Zivilbevölkerung wurde von einem Räumungsbefehl überrascht. Es begann die überstürzte, schlecht organisierte Evakuierung. Nur für einen Bruchteil der Flüchtlinge standen Züge bereit. Am Bahnhof brach Panik aus. Menschen wurden zu Tode getrampelt. Hanke ordnete daraufhin an, die Bewohner
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