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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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betreut werden müssen. Aber dabei soll es nicht bleiben. Sie deutet auf eine graue Strähne in ihrem schulterlangen, dunklen Haar. Ja, sie hat begriffen: Die Zeit drängt. Mutterschaft, sagt sie – auch späte Mutterschaft – sei nur das halbe Leben, und wenn sie aus der zweiten [92] Hälfte noch etwas herausholen wolle, dann müsse sie jetzt Gas geben. Nicht nur ihr selbst gehe das so, sondern auch ihren Freundinnen. »Unser Problem ist: Wir sind alle hinter unseren Fähigkeiten zurückgeblieben.«
    Unsere Beziehung ist grottenschlecht
    Andrea Vetter lebt mit ihrer Tochter in der Nähe von Kiel. Sie selbst wuchs mit ihrem Bruder am anderen Ende der Kleinstadt auf, dort wo heute noch ihre Eltern wohnen. Von ihnen weiß sie nicht viel Gutes zu berichten. Vor allem die Mutter, Luise Vetter*, scheint für die Tochter ein einziger Problemfall zu sein. »Unsere Beziehung ist grottenschlecht.« Sie schildert eine Frau von knapp. 70 Jahren, die sich nur mit Banalitäten beschäftigt, die nicht liest, die sich den ganzen Tag von seichter Radiomusik beschallen lässt und sich immer häufiger mit Verwandten und alten Freunden verkracht, und zwar so, dass der Kontakt völlig abbricht. Das Urteil der Tochter ist hart: »Mutter hat sich, seit ich sie kenne, in keiner Weise geistig weiterentwickelt, und jetzt verblödet sie noch mehr.«
    Warum, frage ich Andrea Vetter, hat sie sich in all den Jahren nicht räumlich von der Mutter abgesetzt? Wäre es nicht einfacher, wenn zwischen ihren Wohnorten 300 Kilometer lägen? Vielleicht, sagt die Tochter, aber vielleicht auch nicht. Sie verweist auf eine Freundin, deren Mutter in Frankfurt wohnt. »Meine Freundin sagt immer: Wenn ich zwei Stunden bei meiner Mutter bin, will ich flüchten. Sie kann aber nicht, es sei denn, sie riskiert das große Drama. Sie muss wenigstens über Nacht bleiben. Ich aber kann nach zwei Stunden wieder gehen.« Noch immer fühlt sie sich von ihrer Mutter gegängelt. Deren Kritik kann sie hart treffen, besonders dann, wenn Luise Vetter ihrer Tochter vorwirft, sie habe es beruflich nicht weit gebracht. Zwar kann die Mutter als Hausfrau selbst auch nichts Bemerkenswertes [93] vorweisen, aber das spielt für sie keine Rolle. Sie definiert ihre Lebensleistung über die Karriere ihres Mannes – ein Ingenieur, der es mit einer eigenen Firma zu beachtlichem Wohlstand brachte. Andrea Vetter stammt also aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Auf Bildung sei in ihrem Elternhaus viel Wert gelegt worden, sagt sie, und dafür sei sie uneingeschränkt dankbar. Der Vater habe stets viel gelesen und sie mit der Welt der Literatur vertraut gemacht.
    Es war der dringende Wunsch von Mutter und Vater gewesen, dass ihre Tochter studierte. Nur kam von den Eltern keinerlei Rückenstärkung, wenn Andrea im Studium Schwierigkeiten hatte. In den Augen von Luise Vetter war die Tochter an ihren Problemen selbst schuld. »Du musst dich eben zusammenreißen«, lautete der übliche Kommentar.
    »Meine Mutter konnte es einfach nicht ertragen, wenn ich schwach war«, glaubt Andrea Vetter. »Andererseits hat sie nichts dazu getan, damit ich stark wurde.« Im Gegenteil. Das Geld für ihren Unterhalt wurde nicht überwiesen – die Studentin musste es sich wöchentlich bei ihren Eltern abholen. Aber dann kam der Vorwurf: »Du kommst ja nur wegen des Geldes.«
    Eigentlich wollte Andrea Vetter Lehrerin werden, doch kurz vor dem Examen brach sie ihr Studium ab. Sie fand einen Bürojob in einer großen Speditionsfirma. Es sollte eine Übergangslösung sein, so lange, bis sie wusste, wie es weitergehen könnte. Zunächst einmal genoss sie es, ihr eigenes Geld zu verdienen. Wenigstens in dieser Hinsicht war sie von den Eltern frei. Die Organisationsarbeit lag ihr. Sie wurde gelobt. Man traute ihr mehr zu als sie sich selbst, und mit der Zeit, als die Verantwortung zunahm, wuchs auch ihr Selbstwert. Sie hatte eine berufliche Umgebung gefunden, in der sie sich sicher fühlte. Anerkennung und Gehaltserhöhungen taten ihr gut. Aus der Übergangslösung wurde eine Dauerlösung. Auch Andreas Bruder bemühte sich nicht um eine Karriere, was auf die Schwester beruhigend wirkte. Ihren Eltern gegenüber empfand sie eine [94] gewisse Schadenfreude: Das hatten sie nun von ihrer ewigen Kritik und von ihrer Art, wie sie ihren Kindern in den Rücken gefallen waren: Man konnte mit Tochter und Sohn nicht angeben. Kein beruflicher Erfolg, keine Familiengründung, keine Enkelkinder in Sicht …
    Sie litt unter dem

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